Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
›Prawda‹ von vorne bis hinten liest, alle vier Seiten. Er macht sich über Eiskunstlauf lustig und behauptet, wenn Fußball genauso häufig übertragen würde wie Eiskunstlauf, würde das Land zum Stillstand kommen.
    »Lauter Deppen, die hinter einem Ball herrennen«, sagt meine Mutter. »Gebt doch jedem seinen eigenen Ball, wenn alle unbedingt einen haben wollen.«
    Mein Vater überhört ihren Kommentar. Er konzentriert sich auf den Bildschirm, wo ein Sportreporter von der landesweiten Meisterschaft berichtet. Seine Lieblingsmannschaft, Zenith, hat gerade gegen den jämmerlichen Club Dynamo verloren, und er murmelt mit kaum hörbarer Stimme:
»Sudju na mylo!«
, das bei Fußballspielen gegrölt wird, wenn die Menge fordert, dass aus dem Schiedsrichter Seife gemacht werden solle. Ich weiß nicht, ob je irgendein Schiedsrichter zu Seife verarbeitet worden ist, aber wenn ich meine Lehrerin Wera Pawlowna oder Tante Polja gegen den Schiedsrichter austauschen könnte, wäre dies meiner Meinung nach ein recht treffender Aufruf.
    Ich bin wegen meines Englischunterrichts mitten im Juli in der Stadt. An jedem Werktag fahre ich mit der Straßenbahn zu einer Privatlehrerin nach Hause, wo ich mir Wörter einpräge, Grammatikregeln entschlüssele und meinen Mund zu fremdartigen Lauten verzerre, bis er mir wehtut. In den zwei Monaten Sommerferien muss ich all das lernen, was meine Freundin Mascha in ihrer englischen Schule in drei Jahren gelernt hat. Im August werde ich mich einer Prüfung unterziehen, um in |108| die vierte Klasse von Maschas Schule aufgenommen zu werden.
    Die Rückseiten meiner Oberschenkel kleben an den Holzlatten des Straßenbahnsitzes. Auch meine Hände sind feucht, und ich merke, dass ich auf dem Umschlag, den ich fest umklammert halte, Flecken hinterlassen habe. Nach jeweils zehn Unterrichtsstunden überreiche ich meiner Lehrerin Irina Petrowna einen ganzen Regenbogen aus Geldscheinen   – grüne Dreier, blaue Fünfer, rote Zehner und hin und wieder einen purpurroten Fünfundzwanziger, die größte Banknote, die ich je gesehen habe.
    Irina Petrowna ist in etwa so alt wie Marina, und ich finde es lustig, dass sie ebenfalls meine Schwester sein könnte. Sie hat kurzes Haar und dichte Augenbrauen und ist nicht so launisch wie Marina, die mir an einem Tag bereitwillig ihren Schreibtisch zur Verfügung stellt, damit ich meine englischen Schallplatten anhören kann, um mich am nächsten Tag anzubrüllen, weil ich mein Lexikon darauf habe liegen lassen. Irina Petrowna ist berechenbar, aber streng. Sie bringt mir die Zeiten bei, den schwierigsten Teil der englischen Grammatik, die nicht so schlimm zu sein scheinen wie die Konjugationen, Deklinationen und sechs Fall-Endungen, mit denen sich ein Ausländer herumschlagen muss, wenn er die russische Sprache beherrschen wollte. »Du hast Glück, dass du hier geboren wurdest«, sagt sie. »Denk doch nur an die armen Vietnamesen und Kubaner, die zum Studieren zu uns kommen und in einem Sommer Russisch lernen müssen.«
    Beim Gedanken an die Vietnamesen, deren Alphabet kaum irgendjemand begreift, fällt mir das Erlernen der englischen Sprache leichter. Wenn ein Vietnamese in einem Sommer Russisch lernen kann, würde ich gewiss Englisch lernen können. Anderthalb Stunden lang lausche ich Irina Petrowna, ihrer |109| melodiösen englischen Stimme, die viel aufregender klingt als der vertraute russische Tonfall. Am Abend mache ich die schriftlichen Übungen, die sie mir zum nächsten Tag aufgibt, nachdem ich fünf Seiten Kipling gelesen habe. Immer dasselbe, sechs Tage die Woche, bis Ende August.
    Außer dem Umschlag mit dem Geld für meine Lehrerin halte ich eine Drei-Kopeken-Münze in der Hand, das Geld für die Rückfahrt mit der Straßenbahn. Die Münze ist aus Kupfer, von unzähligen Fingern ganz dunkel verfärbt, und ich rolle sie über meine Handfläche, bis sie mir versehentlich entgleitet und zwischen den Brettern des Fußbodens verschwindet. Ich hocke mich zwischen die beiden Sitze und spähe in die Dunkelheit, doch die Münze ist verschwunden, verschollen in den Eingeweiden der Straßenbahn.
    Nach dem Unterricht müsste ich Irina Petrowna eigentlich um drei Kopeken bitten   – ein winziger Betrag, so viel kostet ein Glas Wasser mit Sirup, das in jedem Bahnhof aus Automaten sprudelt. Als ich zögernd in der Wohnungstür stehen bleibe, fragt sie mich, ob ich noch irgendetwas brauche, woraufhin ich ohne Weiteres meine Bitte hätte vorbringen können, doch meine

Weitere Kostenlose Bücher