Goodbye Leningrad
Zunge rührt sich einfach nicht. Ich bringe es nicht fertig, um Geld zu bitten, noch nicht einmal um drei Kopeken, deshalb schüttle ich den Kopf und verabschiede mich.
Draußen überlege ich kurz, ob ich schwarzfahren soll. Da es keine Schaffner gibt, die das Fahrgeld kassieren, wäre es ein Leichtes – man braucht nur den Behälter, in den man das Geld hineinwerfen soll, zu ignorieren und so zu tun, als würde einen der Blick aus dem Fenster derart in seinen Bann ziehen, dass man gedankenverloren vergessen hat, einen Fahrschein zu lösen. Doch da gibt es auch noch die Kontrolleure, die deine Schuld nachweisen und deine Ehrlichkeit anzweifeln könnten, die deinen Charakter vor sämtlichen Fahrgästen infrage stellen, |110| wenn sie ein Bußgeld in Höhe von fünf Rubel verhängen. Letztlich lenkt die Angst meine Schritte vorbei an der Straßenbahnhaltestelle und immer die Schienen entlang, auf dem einzigen mir bekannten Weg nach Hause.
Stundenlang gehe ich durch den Nachmittagsdunst, dann durch das abendliche Zwielicht. Straßenbahnen fliegen vorüber und quietschen in den Kurven, während die elektrischen Leitungen über ihnen Funken sprühen. Dann endlich, hinter noch einer Brücke und einer weiteren Kurve erstreckt sich vor mir die vertraute Straße, und an der Ecke ragt unser Wohnblock empor. Der Hof scheint mich zu erwarten. Er tadelt mich nicht wegen meiner Sturheit, meiner albernen Befürchtungen. Als ich auf die Haustür zugehe, weht ein Windstoß von der Straße herein, als würde der Hof erleichtert aufatmen: Ich bin drei Stunden zu spät, aber immerhin zu Hause.
Meine Mutter unterrichtet eine Abendklasse an ihrer Medizinischen Hochschule und ist noch nicht zu Hause. Ich brauche mir keine an den Haaren herbeigezogene Geschichte auszudenken, die sie mir ohnehin nicht glauben würde, oder zuzugeben, dass ich es einfach nicht fertiggebracht habe, meine Lehrerin um eine Drei-Kopeken-Münze zu bitten. Meine Schwester ist auch nicht zu Hause: Nach ihrem Abschluss an der Schauspielschule hat sie beim Leningrader Komödientheater angefangen. Ich bin stolz, eine Schwester zu haben, die Schauspielerin ist, aber auch eifersüchtig und neidisch.
Nur mein Vater ist zu Hause. Er hat sein Bett verlassen und hockt in seinen langen blauen Unterhosen auf einem Küchenstuhl, ein Knie bis zum Kinn angezogen. Sein Knie ist so spitz, dass ich unter der blauen Baumwolle den Umriss seiner Knochen erkennen kann, das magerste Knie, das ich je gesehen habe, selbst bei einem so spindeldürren Körper wie dem seinen. |111| Er raucht seine Belomor, allerdings nur noch eine halbe Packung pro Tag anstatt der üblichen zwei. In der Rauchwolke, die sein Gesicht umgibt, wirkt auch seine Nase spitzer – ein weiterer Vorsprung, der aus seinem Körper ragt, neben seinen Ellbogen und Handgelenken und den langen, knochigen Fingern. »Ich könnte anhand deines Körpers Anatomie unterrichten«, sagte meine Mutter neulich verzagt, als sie ihn aufrecht im Bett sitzen sah. Das sagt sie normalerweise, wenn Marina oder ich beim Abendessen eine weitere Scheibe Brot ablehnen, dabei wissen wir beide, dass wir nicht so dünn sind, als dass man die Umrisse unserer Knochen sehen könnte. Anhand meines Vaters könnte sie allerdings Anatomie unterrichten: Sein Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen.
Vor ihm steht ein Teller mit Salat, von der kundigen Hand meiner Mutter in Scheiben geschnittene Gurke und Radieschen, mit Dill und Frühlingszwiebeln vermengt, die so klein gehackt sind, dass sie wie eine dunkelgrüne Paste aussehen. Wenn im Sommer auf den Märkten und in allen Gärten frisches Gemüse auftaucht, besteht meine Mutter auf einem Teller Salat täglich, genauso wie sie auf einer Schale Suppe besteht. Salat sei für unsere Ernährung notwendig, sagt sie, und Suppe für unsere Verdauung.
»Kuhfutter«, sagt mein Vater jedes Mal und schiebt den Salat beiseite, was meine Mutter nie davon abhält, einen weiteren Teller vorzubereiten.
»Deshalb hast du all deine Zähne verloren«, sagt sie, während sie mit einem Messer auf ein Schneidebrett einhackt, und erinnert ihn daran, dass er während des Krieges keinen Skorbut bekommen hätte, wenn er sich nur über den Nährwert von Gemüse im Klaren gewesen wäre.
Neben seinem nicht angerührten Salat steht eine Untertasse mit Kaviar, den meine Mutter seit Kurzem in einem Feinkostgeschäft |112| drei Straßen weiter kauft. Er wird in Zweihundert-Gramm-Portionen, die in Wachspapier
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