Goodbye Leningrad
entsprechendem ausländischem Namen,
torchier
, ragt über den Sesseln empor wie die aufsteigende Melodie am Ende englischer Sätze, um dann in einer jähen Abwärtsbewegung ihr Licht auf ›Moda‹ und ›Burda‹ und ›England‹ zu werfen, die auf dem Couchtisch liegen. Und der Couchtisch – ein rundes, anmutiges Ding, der Inbegriff von Dekadenz und Luxus, ganz und gar nutzlos – ist mir so fremd wie die englische Sprache.
Am meisten erstaunt mich an Maschas Wohnung, dass es |105| einen Raum gibt, der eigentlich gar keine Funktion hat, einen Raum, der weder zum Kochen noch zum Schlafen dient, einen Raum, in dem wir einfach nur sitzen und uns unterhalten und in exotischen Zeitschriften blättern können. Die Bezeichnung »living room« –
gostinaja
– klingt genauso befremdlich wie »coffee table«, bei der man an fein gerüschte Ladys in Rüschen mit kastanienfarbenen Locken und Zigarren paffende Gentlemen mit Schnurrbärten denken muss. Die vier glatten, kühlen Silben verweilen so fremd wie Eiswürfel auf meiner Zunge.
In unserer Wohnung gibt es nur zwei Zimmer, keines mit einem spezifischen Namen. In dem einen stehen zwei Betten mit seidener Tagesdecke, rosa Tauben, die auf einen purpurfarbenen Hintergrund gestickt sind, der ganze Stolz und die ganze Freude meiner Mutter. Mein Vater musste in einem Kaufhaus anrufen, in dem sie, wie meine Mutter gesehen hatte, angeliefert und dann von einer Verkäuferin unter dem Ladentisch versteckt worden war. Ein hellrotes Sofa, mein Bett, flackert vor der Wand. Ein Fernseher steht auf einer Kommode, in der Wäsche aufbewahrt wird, und daneben ein Frisiertisch mit einem großen, dreiteiligen Spiegel, den nie jemand beim Ankleiden benutzt.
Im zweiten Zimmer, dem meiner Schwester, funkeln zwei Möbelstücke, wie sie in jedes anständige Haus gehören: ein Schrank mit geschliffenen Gläsern und ein Klavier. Jeder, den ich kenne, hat Klavierunterricht, ob musikalisch oder nicht, und in jeder Wohnung prangt ein schwarzes Klavier der Marke
Roter Oktober
. Das unsrige ist mit einem Spitzenläufer bedeckt, auf dem Ballerinas aus Porzellan in den Posen sterbender Schwäne stehen.
Ich hasse es, den Frisiertisch und das Klavier abzustauben. Ich hasse auch das Klavierüben, und diese zweifache Abneigung |106| hält mich fern vom Zimmer meiner Schwester, was uns beiden nur recht ist. Wenn ich aus Maschas Wohnung nach Hause komme, wirken die purpurfarbenen Betten meiner Eltern, mein rotes Sofa und der staubige dreiteilige Spiegel, in dem sich nie etwas Interessantes widerspiegelt, armselig und alt, Möbel, die, obwohl sie nicht zueinander passen, zu einer freudlosen Koexistenz gezwungen sind.
Ich fahre mit der Straßenbahn, auf einem Sitz aus gelb lackierten Holzlatten, zu hart und zu gerade für eine fünfzigminütige Fahrt. Es ist ein Morgen im Juli, und wir rattern durch beinahe menschenleere Leningrader Straßen. Sämtliche Einwohner, denen es möglich war, die Stadt zu verlassen, haben ihre Datschas aufgesucht, kümmern sich um Erdbeertriebe und Tomatensetzlinge und frösteln zwischen Gießen und Unkrautjäten an den windigen Stränden des Finnischen Meerbusens.
Es ist der erste Sommer meines zehnjährigen Lebens, den wir in der Stadt verbringen. Mein Vater, der in den vergangenen zwei Wochen zu Hause geblieben ist, fühle sich nicht gut, sagt meine Mutter, weil er zu viel gearbeitet habe. Er sitzt in langen Unterhosen, so blassblau wie der Himmel hinter der Fensterscheibe, im Bett und starrt auf den Fernsehbildschirm.
»Möchtest du das erste oder das zweite Programm?«, fragt meine Mutter mit der Hand am Schalter. Das erste Programm kommt aus Moskau: Nachrichten, Eiskunstlauf, eine Reisesendung. Ein Mähdrescher wälzt sich über ein Feld, über Hektar von Weizen, hinter ihm kriecht ein Lastwagen, beladen mit Tonnen von Getreide. Ein Paar gleitet über eine Eisfläche, eine Frau vollführt auf einem Fuß Pirouetten, wobei ihr Rücken bei einer Bewegung, die »Todesloop« genannt wird, beinahe das Eis berührt. Eine Zebraherde galoppiert durch die afrikanische Savanne. Wenn mein Vater den Kopf schüttelt – eine nur |107| angedeutete, matte Bewegung –, schaltet meine Mutter auf das zweite Programm um, den Leningrader Sender, wo sich derselbe Mähdrescher über dasselbe Getreidefeld wälzt.
Während ich aus dem Straßenbahnfenster blicke, denke ich an meinen Vater zu Hause, der von den Schwarz-Weiß-Bildern im Fernsehen genug hat und nun die
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