Goodbye Leningrad
dass das Wasser in den Untersetzern immer weiter ansteigt, auf die Fenstersimse läuft und auf den Schreibtisch in Marinas Zimmer tropft. Es |127| tropft auf mein Englischheft, das einzige Relikt aus meinem Sommer mit den unzähligen Vokabellisten, unregelmäßigen Verben und zwölf kniffeligen Zeiten.
Ich nehme mein Heft in die Hand, um es vor dem tropfenden Wasser zu retten, und schlage es bei der Lektion zum
Simple Past
auf. Das
Simple Past
, zu dem jetzt mein Vater gehört. Gestern war er noch im Präsens, gestern und an jedem anderen Tag in den vergangenen zehn Jahren, wenn ich ihm dabei zusah, wie er die Ruder ins graue Wasser des Finnischen Meerbusens eintauchte und mit drei Angelruten, die auf seiner Schulter wippten, über das Feld bei unserer Datscha schlenderte. Die Vergangenheit hat über die Gegenwart gesiegt, die verzerrte unregelmäßige Vergangenheit, die unverständlichste von sämtlichen zwölf Zeiten, so unerklärlich wie das englische Wort »privacy«.
Ich spüre, dass mir irgendetwas die Kehle zugeschnürt hat, und merke, dass ich weine. Ich weine, weil ich diejenige war, die den Hörer gehalten und die Nummer gewählt hat. Ich war diejenige, die von dem Wort »verstorben« getroffen wurde. Nicht meine Mutter, die Anatomie-Professorin, die in alles, was seine Krankheit betraf, eingeweiht war. Nicht meine Schwester, die Schauspielerin, die weiß, wie man Tränen erzeugt und wie man sie verbirgt.
Ich weine, weil mein Heft nur so sprüht vor
Past Tense
, jener Zeit, die von nun an nicht mehr nur meinen Vater, sondern alles, was mein Vater und ich je gemacht haben, umfasst. Ein Teil von mir ist mit ihm in dieser Vergangenheit gefangen, und ich weiß nicht, was das bedeutet. Vielleicht werde ich ja auch sterben – ganz gleich, ob ich Salat esse oder nicht, ob zu meinem täglichen Abendessen Suppe und Brot gehören oder nicht.
Ich weiß nur, dass ich nie wieder den Tabak an seinen Fingern riechen oder seine Bartstoppeln spüren oder »Bruder |128| Hase« sein werde, und dieses Wissen lässt mich noch mehr weinen, so sehr, dass meine Mutter aus ihrer Gießtrance aufschreckt und mich an ihren weichen Busen drückt und Marina zuflüstert:
»Wsjo ponimajet«
, was heißt, dass ich soeben erwachsen geworden bin und jetzt alles begreife.
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PILZE
»Nur ich kann
belyje
finden«, sagt meine Schwester, während sie mit meiner Mutter Körbe in unterschiedlichen Größen begutachtet, die sich neben dem Eingang unserer Datscha stapeln. »Ich wette, meine werden die besten sein.«
Es ist unser erster Datscha-Herbst ohne meinen Vater. Die drei Angelruten lehnen nach wie vor im Schuppen an den splittrigen Brettern, allerdings stehen sie inzwischen, von wichtigeren Geräten an die Wand gedrängt, hinter den Spaten und Hacken. Wegen der Krankheit meines Vaters haben wir im Juni nichts gepflanzt, und zu meiner unendlichen Freude gibt es fast nichts zu ernten. So können wir einen ganzen Sonntag im September – nach meiner zweiten Woche in der vierten Klasse – der Pilzsuche widmen.
Belyje
, die Steinpilze mit ihren dunkelbraunen Hüten, die auf soliden Stielen sitzen, sind ganz oben im Pilz-Olymp angesiedelt. Selten und schwer zu finden, sind sie wahre Schätze, die meine Mutter mit Schmand sautiert, zerkleinert der Suppe beifügt, um ihr einen prägnanten Duft zu verleihen, und an einem Faden aufgereiht über den Herd hängt, um sie für den Winter zu trocknen.
An zweiter Stelle rangieren die Düngerlinge, deren Stiele schwarz gefleckt sind, gefolgt von Birkenpilzen auf langen, |130| dünnen Beinen. Ein harter Schwamm unter dem Hut unterscheidet die edlen Pilze von den simplen mit ihren hohlen Stielen und den albernen, mit Speichen aus blassem Fleisch ausgekleideten Schirmköpfen.
Diese zweitklassigen Pilze taugen nur zum Einsalzen. Wenn meine Mutter sie klein schneidet, perlen beißende, milchige Tropfen über ihre Stiele. Sie müssen erst gekocht werden, damit ihr bitterer Geschmack verschwindet. Dann schichtet sie sie, inzwischen ganz schlaff, doch immer noch von intensiver Farbe – graue, rosafarbene und die seltenen orangefarbenen – in einen Aluminiumeimer mit gelben Dillblütenschirmen, Knoblauch und den Blättern der schwarzen Johannisbeere. Wenn der Eimer randvoll ist, füllt sie ihn mit heißem Wasser auf. Im Frühherbst werden wir die Pilze essen können, eine unentbehrliche Vorspeise bei jedem geselligen Zusammensein, eine willkommene Ergänzung zu gekochten Kartoffeln und
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