Goodbye Leningrad
Pionierbrigade lud die verrostete Hülse auf einen gepanzerten Lastwagen und schaffte sie fort. Jedes Mal, wenn ein neuer Gast über unser Datscha-Grundstück geführt wird, höre ich diese Geschichte, wobei die Stimme meiner Mutter vor Stolz bebt, dass gerade unser Grundstück nur knapp einer solchen Gefahr entronnen ist.
Jahrelang kursierten auf dem Land Geschichten von Jungs, die in den Wäldern Granaten fanden und sie in Lagerfeuer schleuderten, woraufhin ihren leichtsinnigen Händen Finger weggerissen wurden. Angeblich gab es in einem Nachbardorf einen Jungen, dessen Gesicht von Kugeln, die er in ein Feuer geworfen hatte, verbrannt worden war, und einen anderen, der seinen Fuß durch eine Landmine verloren hatte.
Ich habe noch nie Jungs mit fehlenden Fingern oder Füßen oder irgendjemanden mit einem verbrannten Gesicht gesehen. Aber auf meinen Pilzexkursionen stoße ich auf genügend Krater und Gräben wie den, in dem ich jetzt stehe, um zu wissen, dass der Krieg tatsächlich hier stattgefunden hat, dass er in das Fleisch der Erde Wunden gerissen hat, die so tief sind, dass es für ihre Heilung eines Vierteljahrhunderts bedurfte.
Am Rand des Grabens entdeckte ich einen großen Pilz, einen hellroten Schirm mit weißen Flecken, einen Farbtupfer inmitten blasser Grashalme und spärlich gesäter Erdbeerbüschel. Er heißt
muchomor
, Fliegentod. Meine Mutter zerkleinert ihn mit |136| etwas Wasser und Zucker auf einer Untertasse – und tags darauf liegen rund um die Untertasse auf dem Fensterbrett und auf dem Boden lauter tote Fliegen. Er ist stets makellos, kein Tier rührt daran; er kann es sich leisten, so auffällig zu leuchten. Und gleich daneben, im Schatten des getupften Schirmes, ragt ein kleiner Pilz mit braunem Hut nur zwei Zentimeter aus dem Boden, daneben ein größerer und noch einer – wie eine Reihe Matrjoschka-Puppen stehen sie die Senke hinunter aufgereiht. Im Ganzen acht – eine perfekte
belyje
-Familie.
Schwindlig vor Erfolg, hüpfe ich im Graben auf und ab, wobei unter meinen Füßen Tannenzapfen knirschen. Acht
belyje
auf einem einzigen Pilzausflug zu entdecken, ist so gut wie unmöglich. Mir ist es zum ersten Mal gelungen, Marina zu übertrumpfen.
Vorsichtig löse ich einen nach dem anderen aus dem Boden. Der größte ist etwa zehn Zentimeter groß, mit einem schokoladefarbenen samtenen Kopf. Ich beuge mich hinunter, um meinen Korb mit Farnblättern aus der Senke auszulegen, wie ich es bei Marina so häufig gesehen habe; ein solcher Schatz muss vor den spröden Zweigen geschützt werden.
Mir dreht sich alles, als ich aus dem Graben klettere, die Knie ganz zerkratzt von den Holzsplittern auf dem Abhang. Ich bleibe kurz am Rand stehen und versuche, mich zu orientieren. Am wichtigsten ist es, noch mal alles Revue passieren zu lassen. Ich hatte mich dem Graben von einer Gruppe schütterer Farne aus genähert, doch als ich mich umsehe, stelle ich fest, dass um mich herum überall Farne stehen. Und die Sonne ist weitergewandert; ihr Licht sickert inzwischen von links durch die Baumwipfel. Ich stehe wie angewurzelt da und spitze die Ohren, lausche auf raschelnde Blätter und knackende tote Zweige, die auf meine Mutter und meine Schwester hindeuten könnten.
|137| Ich lausche so angestrengt, dass mich mein eigener Atem stört. Hoch über mir rascheln Blätter, doch darunter herrscht absolute Stille: Blaubeeren, Pilze, Moos auf morschen Baumstümpfen. Kein einziger Laut, nicht die geringste menschliche Bewegung dringt in die Stille des Waldes.
»A-uuu!«, brülle ich aus voller Kehle, wobei ich mich in verschiedene Richtungen drehe – der Ruf, wenn man sich im Wald verlaufen hat. Die einzige Antwort ist das Raunen der Blätter hoch über meinem Kopf. Es ist noch immer Vormittag, sage ich mir, außerhalb des Waldes scheint die Sonne, und meine Mutter und meine Schwester suchen wahrscheinlich bereits nach mir. Außerdem habe ich in meinem Korb eine perfekte Reihe
belyje
.
Plötzlich fällt mir ein: Das letzte Feld, das wir überquerten, bevor wir in den Wald gingen, und auf dem ich meine ersten beiden Pilze fand, muss ganz in der Nähe sein. Von dort war es nicht weit bis zum Schützengraben. Wenn ich umkehre, werde ich auf das Feld gelangen und den Weg zurück nach Hause finden.
Ich mache mich auf in Richtung eines Lichtfleckens, der durch eine breite Lücke zwischen den Bäumen schimmert. Das Licht scheint täuschend nah, doch jedes Mal, wenn ich ihm näher komme, entschwindet
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