Goodbye Leningrad
geschlossene Tür dringt nicht viel, nur das Raunen ihrer Stimmen und vereinzelte Satzfetzen.
»Sauerstoff«, höre ich, ein Wort, das normalerweise nicht beim Kochen fällt. »Ich durfte nicht bleiben«, sagt meine Mutter lauter, während sie sich vom Herd zum Spülbecken neben der Tür bewegt. »Sie wussten, dass ich Professorin für Anatomie bin, deshalb haben sie mir die Wahrheit gesagt«, verstehe ich und mache mir aufgrund dieses vollständigen Satzes erneut Hoffnung, die durch das Geklapper in einem Geschirrschrank in der Nähe der Tür allerdings gleich wieder gedämpft wird. Ich halte den Atem an, doch unter der Küchentür hindurch dringt nichts mehr zu mir, bis meine Mutter klirrend Teller auf den Tisch stellt und etwas sagt, das mit »zu jung, um etwas zu begreifen« endet.
Als ich in der Nacht so tue, als würde ich schlafen, höre ich sie in ihrem Bett, das neben dem unberührten, leeren meines Vaters steht, weinen.
»Heute rufen wir zeitig im Krankenhaus an«, sagt meine Mutter am Morgen.
|125| Zu dritt schuckeln wir, auf den Boden starrend, mit dem Fahrstuhl nach unten, während meine Mutter mit den Zwei-Kopeken-Münzen für das Telefon in ihrer Hand klimpert. Es fängt wieder an zu regnen, als wir um die Pfützen herum über den Hof auf die Straße gehen, wo die grüne Telefonzelle im Regen glänzt. Wir bleiben davor stehen, und Marina ballt ihre Hand um den Zettel mit der Telefonnummer des Krankenhauses zu einer Faust.
»Hier ist die Nummer«, murmelt sie und weicht meinem Blick aus. Sie drückt mir einen Zettel in die Hand: »Heute rufst du an.«
Mit Fingern, so hölzern wie meine Beine, wähle ich mit klopfendem Herzen und einem flauen Gefühl im Magen die sechs auf den Zettel gekritzelten Ziffern. Ich erkenne meine eigene Stimme nicht wieder, als ich den Namen meines Vaters ausspreche; er dringt kaum hörbar aus meiner Kehle, genau wie seine Stimme, bevor das Taxi mit ihm zum Krankenhaus davonfuhr. Ich höre, wie am anderen Ende der Leitung die Frau an der Information mit Papieren raschelt und dabei eine lustige Bemerkung zu jemandem macht, der daraufhin kichert.
»Letzte Nacht verstorben«, ertönt die Stimme vom anderen Ende der Stadt, eine ganz gewöhnliche weibliche Stimme, für die es ganz normal zu sein scheint, ungewöhnliche Nachrichten zu übermitteln. Sie klingt ein wenig wie die von Irina Petrowna, nur viel schroffer, da die Frau russisch spricht. Ich höre ein Klicken und dann einen lang gezogenen Ton, ausdruckslos, dröhnend, endlos.
Auf dem Weg nach oben schweigen wir. In der Wohnung geht Mama mit schweren Schritten ins Badezimmer und reibt ihr Gesicht und Haar ausgiebig mit einem Handtuch trocken. Bedächtig füllt sie eine Gießkanne und geht den Flur entlang, um die Pflanzen auf den Fensterbrettern zu gießen. Sie bewegt |126| sich ganz vorsichtig und mechanisch, wobei ihr Rhythmus und ihr Schweigen von einer langjährigen Überlebenspraxis diktiert sind.
»Neueste Nachrichten von den Feldern«, kläfft eine Stimme aus dem Radio. »Die Kolchose Nummer 54 aus dem Oktjabrski-Gebiet meldet voller Stolz die beste Ernte von …« Marina langt nach oben und dreht am Knopf, doch die Stimme summt weiter durch die Wand der Nachbarwohnung hindurch.
Ich weiß, dass der Tod die Menschen zum Weinen bringt, aber so tief ich auch in mich hineinhorche, ich kann nirgendwo ein Gefühl von Trauer entdecken. Sie ist auf der Landkarte meines zehnjährigen Lebens nicht verzeichnet, sondern gehört ins Theater und in den Film, in die Welt einer Wera Pawlowna, meiner Lehrerin in der dritten Klasse, und ihres viel gepriesenen Schulbuch-Heldenmutes während des Großen Vaterländischen Krieges.
Seltsamerweise geht das Leben außerhalb meines Körpers weiter wie bisher und spult die verschiedenen Szenen mit derselben Vorhersehbarkeit und Ordnung ab wie sonst: meine Mutter, die durch die Wohnung schlurft; meine Schwester, die hinter ihr hergeht, als warte sie auf irgendwelche Anweisungen; die quietschenden Bremsen, wenn ein Auto an der Straßenecke die Grünphase nicht mehr geschafft hat; der Geruch von gebratenen Zwiebeln, der aus der Küche eines Nachbarn durch die Risse um die Wohnungstür dringt. Ich registriere alles ganz mechanisch, als wäre ich Irina Petrownas britische Schallplatte, ohne jedoch etwas zu empfinden.
Meine Mutter geht zurück ins Bad und füllt erneut die Gießkanne. Sie gießt weiterhin die Blumen, bewegt sich von einem Fensterbrett zum anderen, ohne zu merken,
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