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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Schwarzbrot. Da er in keinen Kühlschrank passt, steht der Eimer auf unserem Balkon und ist von November bis März gefroren. Dann sind wir auf einen Hammer oder Marinas kräftige Faust angewiesen, um die obere Eisschicht zu zerschlagen.
    Eine Pilzsuche muss, wie jedermann weiß, frühmorgens beginnen, wenn eine zaghafte Helligkeit unterhalb des Horizonts aufsteigt und die Wipfel des Waldes jenseits des Feldes in Brand setzt. Wie das Angeln ist es ein Ritual, das bei Sonnenaufgang praktiziert werden muss.
    Meine Schwester kennt die Stellen. Um Pilze, vor allem edle, zu finden, muss man wissen, wo sie wachsen, was nicht unbedingt geografisch gemeint ist, sondern vielmehr intuitiv. Meine Mutter und ich schlendern durch den Wald und spähen unter jeden Baum, drehen jedes Blatt um, während Marina zielstrebig an uns vorbei auf einen unscheinbar aussehenden Graben zusteuert, in dem sie eine perfekte
belyje
-Familie freilegt.
    |131| Wir drei machen uns auf den Weg, sowie die Sonne über den Baumwipfeln auftaucht. Wir gehen an dem Haus ohne Anstrich vorbei, in dem die Zigeuner wohnen, vorbei an dem Bullen der Zigeuner, dessen Schwanz von Ratten abgebissen worden ist, vorbei an den Bretterstapeln, die vor langer Zeit dorthin geschafft worden sind, für ein Vorhaben, das nie umgesetzt wurde. Während wir über das feuchte Feld auf den noch vom nächtlichen Nebel verhangenen Wald zugehen, rascheln Vögel in den Sträuchern und in den Grasbüscheln beginnen Grashüpfer wie auf das Zeichen eines unsichtbaren Dirigenten hin zu trillern.
    Als wir uns dem hinteren Ende des Feldes nähern, kurz vor dem Waldrand, gelangen wir zu einem von Blaubeerdickicht umgebenen Birkenhain, einer guten Stelle für Birkenpilze. Ich lasse meine Hand mitten in einen Strauch gleiten und schiebe die kleinen harten Blätter auseinander. Da ertasten meine Finger einen glitschigen Hut   – und einen zweiten, kleineren, gleich daneben   –, elastisch und vollkommen. Ich bohre meine Finger ins Moos und grabe die Pilze an ihrer Wurzel mitsamt ihren robusten, weißen Stielen aus.
    »Ich hab zwei!«, rufe ich Marinas Rücken zu, der sich in weiter Ferne zwischen den Bäumen hin und her bewegt. Ich laufe, bis ich sie am Rand des richtigen Waldes einhole, wo Tannen und Eichen hoch über einem aufragen und kein Sonnenlicht mehr durchlassen. Ich strecke die Hand aus, und Marina erhebt sich und begutachtet die Pilze. Sie sind makellos, mit gefleckten Stielen und festen Hüten, es gibt nichts an ihnen auszusetzen, bis auf eines   – es sind keine
belyje
.
    »Warte«, sagt Marina und reicht sie mir zurück, »warte, bis ich zu meinen Stellen komme.« Sie huscht in den Wald und verschwindet hinter einem Eichenstamm.
    Welche geheime Ahnung hat mich zu dieser Blaubeerstelle |132| unter einer Birke geführt? Mein kleiner Triumph kitzelt in meiner Nase, schärft meine Sinne, lässt mich meinen eigenen Weg zu den verborgenen
belyje
-Schätzen erschnuppern.
    Ich betrete den Wald. Moderige Blätter marinieren in schlammigem Lehm; tote Äste und alte Tannennadeln werden allmählich Teil des Waldbodens. Ich folge dem Knistern von Marinas beschwingten, resoluten Schritten. Das Rascheln meiner Mutter zu meiner Linken ist langsamer und weniger entschieden. Obwohl nahezu all meine Sinne auf den Boden gerichtet sind, nehmen meine Ohren nach wie vor die territorialen Verlagerungen meiner Mutter und meiner Schwester wahr. Unter dem Blätterdach sind ihre Geräusche mein einziger Kompass.
    Hinter einer Gruppe alter Farne fällt der Boden jäh ab in eine Senke mit steilen, grasbewachsenen Seiten. Ich hocke mich an den Rand und springe hinunter, wobei unter meinen Füßen Tannenzapfen knirschen. Meine Augen sind mit dem Rand der Senke auf gleicher Höhe, und ich sehe, dass sie an den Seiten mit halb verrotteten, splittrigen Pfählen abgestützt ist. Ein Schützengraben aus dem Großen Vaterländischen Krieg. In den Wäldern gibt es etliche solcher Gräben und Bombenkrater, deren Seiten mit der Zeit geglättet worden sind. Unter Waldkompostschichten waren Hunderte von alten Bomben, Granaten und Minen verborgen, die heutzutage schwer zu finden sind.
    Ich würde den Graben gern meiner Mutter zeigen. Jedes Jahr holt sie am 9.   Mai, dem Tag des Sieges, ihre drei Orden aus der Schublade und nimmt sie vorsichtig aus braunen Schachteln. Die Orden sehen aus wie die Schokolade in Goldpapier, die wir alle zu Neujahr bekommen, aber sie sind aus Bronze und an trapezförmigen Anhängern aus

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