Goodbye Leningrad
selbst genähten Sommerkleid, als verdiente ich seine Aufmerksamkeit, als wäre ich eine von jenen älteren Mädchen, die ihre Augenlider anmalen und ihr Haar toupieren und samstagabends zum Tanzen gehen.
Ein winziger Punkt am Ende der Straße wuchs zu einem keuchenden, ratternden Bus heran, doch wusste ich, noch bevor er hielt, dass meine Mutter nicht darin saß. Die drei Fahrgäste stiegen die Stufen hinab und machten sich auf den Weg, einer in Richtung Bahnhof, die beiden anderen dorthin, wo die Zigeuner wohnten. Die Luft war von der hereinbrechenden Dämmerung ganz diesig, dabei war es noch nicht einmal sechs Uhr. Der Bus wartete ein paar Minuten, machte dann in einer Wolke aus Abgasen mit quietschenden Reifen kehrt und fuhr von dannen. Der Mann stand auf. Er trug schwarze Hosen und ein kariertes Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt waren. Ich musste mich mit irgendetwas beschäftigen, also hockte ich mich dorthin, wo der Asphalt endete und das Gras begann, und tat so, als würde ich ein Fleckchen mit
podoroschnik
betrachten, einer Heilpflanze, von der es heißt, sie |159| habe eine blutstillende Wirkung. Sie hatte dicke, dunkelgrüne Blätter, die herzförmig und von Adern durchzogen waren.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie der Mann sich streckte, ein paar Schritte über die Straße ging und dann mit Blick auf den Wald stehen blieb, als wolle er abschätzen, wie weit der Weg bis dorthin wohl sei. Ich blieb hocken und zögerte, mich nun, da er sich in meinem Blickfeld befand, zu bewegen, dabei war meine Haltung unbequem, und ich spürte, wie in meinem Bein winzige Nadeln eines betäubenden Schmerzes zu stechen begannen. Dann merkte ich, dass er mich direkt ansah, wandte mich rasch ab und starrte gebannt auf die dicken, staubigen Blätter.
»Was siehst du dir da an?«, fragte er aus etwa zwei Meter Entfernung mit den Händen in den Hosentaschen. Er verwendete das formlose
ty
für »du«, wie man es Kindern oder jenen gegenüber verwendet, die einem nahestehen, und ich war mir nicht sicher, welches von beiden er meinte.
Ich stand auf, mein linkes Bein war eingeschlafen, aber ich biss die Zähne zusammen und ließ mir nichts anmerken. »
Podoroschnik «
, sagte ich und nickte in Richtung der Pflanzen. Obwohl ich den Mann nicht direkt anblickte, konnte ich dennoch sehen, wie er, groß und stattlich, mich musterte, mir das Gefühl gab, wichtig, ja beinahe erwachsen zu sein.
»Hast du Lust, mit mir einen Spaziergang über das Feld zu machen?«, fragte er und neigte den Kopf in Richtung Wald.
Ich wusste, dies war ein Erwachsenenangebot, wie es einer Zwölfjährigen normalerweise nicht gemacht wird, und war ihm dankbar für seine Aufmerksamkeit. Ich hatte das Gefühl, auserwählt zu sein, weshalb mein Herz schnell und stark pochte. Schade, dass niemand sonst da war und sah, wie ich mit diesem gut aussehenden Mann aufbrach. Er stand da und wartete, inzwischen lächelte er leicht, mit kleinen Falten um die Augen, |160| wodurch er noch attraktiver wirkte. Doch dann zog sich etwas in mir zusammen. In seinen Augen erschien ein seltsamer Ausdruck, der seinen Blick zweideutig und unangenehm werden ließ, als könnte er in mir etwas sehen, von dem ich nichts wusste, etwas Schändliches und Verbotenes, das mein Vater verabscheut hätte.
Ich wollte ihn nicht kränken, aber irgendetwas bewog mich, den Kopf zu schütteln und es mir anders zu überlegen. Sein Lächeln verschwand. Ich drehte mich um und ging in Richtung unseres Hauses, obwohl ich wusste, dass, wenn meine Mutter zwanzig Minuten später einträfe, niemand da wäre, um sie abzuholen. Ich spürte, wie die Augen des Mannes auf meinen Rücken geheftet waren, und sein starrer Blick bewirkte, dass ich mich ganz verkommen fühlte, als hätte ich etwas getan, von dem ich niemandem etwas erzählen durfte, etwas, das gut verpackt und außer Sichtweite im untersten Regal meines Herzens verstaut werden musste.
Alle wissen etwas, von dem ich keine Ahnung habe – meine Schwester, der gut aussehende Wolodja, der in der Leichenhalle arbeitet, die Laborassistentin Sina, die, sobald sie in seiner Nähe ist, zu kichern beginnt, und all die Leute auf den Straßen und in den Bussen, die einander auf dem Weg zur Arbeit die Ellbogen in die Rippen stoßen. Sie alle sind in ein tiefes, verwerfliches Geheimnis eingeweiht, über das sie nicht reden. Es offenbart sich lediglich in flüchtigen Blicken und einem wissenden Lächeln, in einem Schulterzucken
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