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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Hüften stützt. Sie |153| blickt sich um, ob irgendjemand es wagen würde, ihre Integrität infrage zu stellen. »Und falls doch, dann würde ich ihm die Nachricht nicht mitten im Unterricht schicken.«
    Mein Brief an Nikolai, der ebenfalls gegen die Statuten der Pioniere verstößt, prangt in meinem Notizbuch, und weder Natascha noch Ljubow Petrowna kann mich zwingen, mich dafür zu entschuldigen, dass ich ihn geschrieben habe. Wenn ich noch einen Reim hinzufüge, wird er genauso schön sein wie der, den Puschkins Tatjana an Onegin geschrieben hat.
    Er wird ihn lesen, feinsäuberlich auf liniertes Papier übertragen, unterzeichnet mit meinem vollständigen Namen. Erhaben und würdevoll, wie er ist, wird der Brief Nikolai für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Wenn er ihn als Erwachsener, mit Ende zwanzig, liest, wird er feststellen, dass er etwas Bemerkenswertes übersehen hat, etwas, an das er hätte rühren können, wenn er nur den Arm danach ausgestreckt, einen Blick darauf geworfen hätte. Er wird feststellen, wie nobel und schlicht sie war, diese Liebe, die ganz in seiner Nähe in unseren Schulkorridoren erwachte.
    Aber es wird zu spät sein. Wie Puschkins Tatjana werde ich dann verheiratet und treu sein. Es wird zu spät sein.

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DIE MENSCHLICHE ANATOMIE
    Jahr für Jahr, während der unterrichtsfreien Zeit im November, nimmt meine Mutter mich mit in ihre Medizinische Hochschule, wo sie im Fachbereich Anatomie lehrt, und ich verbringe zehn Tage im Museum. Sie versucht, mich frühzeitig mit der ernst zu nehmenden Welt der Medizin zu indoktrinieren, weil sie nicht möchte, dass ich wie meine Schwester Schauspielerin werde. Das Museum ist still und leer, und dort stinkt es wie überall im Fachbereich Anatomie nach Formaldehyd.
    Ich atme tief durch, und die von chemischen Dämpfen erfüllte Luft dringt in meine Lungen. An der linken Wand hängt ein Schaubild der Lungen, mit blauen und roten Blutgefäßen, die im Brustkorb eines gesichtslosen Mannes ein wirres Knäuel bilden. Darunter treibt in einem großen, mit trüber Flüssigkeit gefüllten Glasgefäß ein echtes Lungenpaar, wie graue Gummiklumpen, aus denen die Luft gewichen ist, mit einer Bildunterschrift auf Latein. Ich schlendere durch den Raum und sehe mir die Ausstellungsstücke an. In einem Glasgefäß steht ein halber Kopf, dessen Nasengänge bloßgelegt und dessen graue Gehirnhälften so rissig wie ausgetrocknete Erde sind. Welche Gedanken, frage ich mich, lebten wohl einst in den Windungen seiner Höhlen? In einem anderen Gefäß schwimmt ein Herz, |155| farblos und schlaff, mit Arterienstümpfen, die in der Flüssigkeit schweben   – eine missgestaltete Birne.
    Hautfetzen, nackte Muskeln, schrumpelige Genitalien   – nichts macht mir Angst. Sie sind allesamt verwandelt, blutleer, losgelöst vom Leben, für das sie eigentlich stehen. Körnig und farblos treiben menschliche Körperteile in Glasgefäßen wie Bilder hinter den dicken Glasscheiben von Fernsehbildschirmen.
    Während dieser Besuche in der Anatomie übergibt mich meine Mutter in die Obhut einer Laborassistentin, Tante Klawa, einer verhutzelten Babuschka mit grauen Haarbüscheln, die unter einer weißen Haube hervorquellen. Jeder hier trägt einen weißen Arztkittel und eine Stoffhaube, selbst die Laborassistenten, sogar die Studienanfänger, die leise ins Museum schleichen, vorsichtig ihre Stühle von den Tischen mit Exponaten wegziehen und sich nur zögernd neben den mit Formaldehyd gefüllten Glasgefäßen niederlassen.
    Tante Klawa riecht nach Tabak, und wenn ich mich im Flur aufhalte, sehe ich sie auf einem Treppenabsatz neben der Toilette eine Zigarette paffen. Sie schlurft und keucht und klimpert mit Schlüsseln. Sie greift in ihre Tasche und holt drei Lutschbonbons daraus hervor   – für mich, für Sina mit den strähnigen Haaren, die jedes Mal, wenn jemand die Tür zu ihrem kleinen Labor im Kellergeschoss öffnet, beflissen in ihr Mikroskop späht, und für Wolodja, der in der Leichenhalle arbeitet und in Gummischürze und riesigen Gummistiefeln durch den Flur stapft. Sina und Wolodja sind achtzehn, gerade fertig mit der Schule, aber die sechs Jahre Altersunterschied zwischen uns sind Lichtjahre. Sie registrieren meine Gegenwart, blicken jedoch an mir vorbei. Sie sind Erwachsene, sie verdienen ihren Lebensunterhalt und wissen Dinge, von denen ich keine Ahnung habe.
     
    |156| Die Studenten meiner Mutter beginnen ihr Praktikum: Sie lernen zu sezieren. Wolodja

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