Goodbye Leningrad
und Dima, ein weiterer Leichenhallenassistent, tragen, ausgerüstet mit Schürzen und Handschuhen aus Gummi, eine Leiche aus dem Keller nach oben und legen sie auf einen hohen Marmortisch im Seziersaal. Vom Formaldehyd ist der Körper ganz braun, dem Leben so fern wie die Organe aus dem Museum. Während meine Mutter mit dem Unterricht beginnt, nähere ich mich vorsichtig und sehe, dass es ein Mann ist. Ich starre auf die Gliedmaßen, die ausgestreckt neben dem Rumpf liegen, auf das kantige Gesicht mit der straffen Haut über den Wangenknochen, auf den unterhalb des Brustkorbs eingefallenen Leib. Auf den runzeligen Fleischhaufen im Schritt.
Meine Mutter blickt zu mir und fordert mich auf, ins Museum zu gehen. Obwohl ich gern beim Sezieren zusehen würde, ist mir klar, dass ich mitten im Unterricht nicht mit ihr diskutieren kann. Anstatt ins Museum zu gehen, steige ich hinab in den Keller und schlendere durch den schmalen Flur, vorbei an der geschlossenen Tür zu Sinas Labor, vorbei an der offenen Tür zur Leichenhalle. Die Leichenhalle ist in Halbdunkel gehüllt, zwei Glühbirnen werfen ein trübes Licht auf riesige Bottiche mit hölzernen Deckeln, in denen Leichen aufbewahrt werden. Es seien die Leichname von Menschen, die keine Verwandten hätten, nach denen niemand frage, hat meine Mutter mir erzählt. Die Deckel sind über dicke, ausgefranste, verfärbte Drahtseile mit Handkurbeln verbunden. Der Geruch von Formaldehyd ist hier dermaßen intensiv, dass er in meiner Nase brennt und ich husten muss.
In der Ecke sehe ich Sina, die Laborassistentin, auf einem Bottichdeckel sitzen, während Wolodja aus einem Kessel Tee in ihre Tasse gießt. Sie bemerken mich nicht, jedenfalls tun sie so, ganz und gar versunken in ihre Teepause inmitten der Leichen. |157| Ich würde gern bei ihnen sitzen, ganz still, am liebsten neben Wolodja, und ihrer neu erworbenen Erwachsenenweisheit lauschen, aber sie nehmen mich nach wie vor nicht zur Kenntnis. Ich tue so, als sei ich Sina, als würde ich auf dem hölzernen Bottichdeckel neben Wolodja hocken, ganz sachlich über rätselhafte Erwachsenendinge reden und zur Tür hinüberblicken, wo eine unbeholfene Zwölfjährige mit großen Füßen auf klägliche Weise nach seiner Aufmerksamkeit lechzt.
Ich gehe zurück zum Seziersaal und stelle mich in die Tür. Die Studenten meiner Mutter schneiden vorsichtig mit ihren Skalpellen in den Unterarm des Mannes und stochern in seinem Fleisch herum, auf der Suche nach den inneren Blutbahnen, Nervensträngen, Bündeln aus Muskelgewebe. Selbst von da, wo ich stehe, kann ich sehen, wie zögerlich die Studenten sind, wie beeindruckt von ihrer eigenen Courage, von der Zuversicht meiner Mutter. Unter ihrer ruhigen Hand wird der Körper des Mannes allmählich kleiner, zerschnitten in lauter Ausstellungsstücke, wie sie überall im Museum in Petrischalen zu sehen sind. Mir wird klar, dass der Mann gemäß dem meiner Mutter von einem Anatomielehrbuch vorgegebenen Unterrichtsplan kapitelweise – ein Kapitel pro Tag – dahinschwindet.
Ich sitze im Museum und zeichne ein großes Schaubild mit Blutgefäßen, das ich auf Geheiß meiner Mutter aus einem Lehrbuch kopiere. Mein Schreibtisch steht unterhalb der Glasgefäße mit der Aufschrift »Weibliches Fortpflanzungssystem«. Rote Arterien und blaue Venen schlängeln sich vom Herzen zur äußeren Hautschicht. Rot – frisches Blut, mit Sauerstoff angereichert; blau – alt und verbraucht, auf dem Rückweg zum Herzfilter. Ich muss sorgfältig und genau sein: Ein Zentimeter zu viel oder zu wenig, schon könnte die präzise arbeitende Uhr des inneren Mechanismus zum Stillstand kommen und kollabieren. |158| Ich bin für die komplexe Vernetzung des Körpers, für dessen reibungsloses Funktionieren verantwortlich.
Ich muss an einen Mann denken, den ich in der Nähe unserer Datscha gesehen habe, einen großen, dunkelhaarigen Mann, der mich im letzten Sommer an der Bushaltestelle ansprach, als ich darauf wartete, dass meine Mutter von der Arbeit zurückkehrte. Ich hatte ihn zuvor beobachtet, wie er auf dem Feld am Waldrand das Gras mähte, mit ausholenden, entschiedenen Bewegungen, während seine Sense in hypnotischem Rhythmus sirrend nach unten schnellte. Er hockte im Gras, neben dem asphaltierten Bereich des Feldes, wo sich die Endstation des Busses befand, rauchte und musterte mich mit seinen harten, dunklen Augen. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass er mich ansah, eine Zwölfjährige in einem
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