Goodbye Leningrad
meiner Cousins begeben. Aber noch sind wir hier und starren zum Wiegenlied der ratternden Räder aus dem Fenster in die schwarze Leere.
Meine Tante Musa holt uns mit meinen drei Cousins Kostja, Fedja und Kolja am Bahnhof ab. Sie habe deswegen drei, scherzt sie, als sie sich im Gedränge des ankommenden Zuges um uns scharen, weil sie sich immer ein Mädchen gewünscht habe. Nach der Geburt ihres dritten Sohnes, Kolja, sei ihr klar |179| geworden, dass Mädchen nicht ihre Bestimmung, sondern die meiner Mutter seien, und habe schließlich aufgegeben.
Das russische
musa
bedeutet »Muse«, womit meine Großmutter möglicherweise ihre eigene nie verwirklichte Karriere als Opernsängerin zu verewigen versuchte. Ihr Vater, ein Fabrikbesitzer und Mann mit strengen Moralvorstellungen, versagte ihr das Studium an einem Konservatorium, für das sie ein Stipendium bekommen hatte, da in seinen Augen eine anständige Frau auf einer Bühne nichts zu suchen hatte.
Meine Tante ist klein und rundlich, fünfzehn Jahre jünger als meine Mutter und sieht ganz und gar nicht wie eine Muse aus. Gemäß der Familientradition ist Tante Musa Ärztin, und zwar Geburtshelferin im einzigen Krankenhaus der Stadt. Mit ihrem vollen Gesicht und ihrer stämmigen Figur setzte sie alles daran, mich zu mästen, meinen Wangen Farbe einzuhauchen, was sie »Erbarmen mit den Städtern, den Armen« nennt. Jeden Nachmittag ergreift sie Besitz von der Küche, deren Wände Knoblauch- und Zwiebelzöpfe schmücken, zunächst am Tisch, auf dem sie schneidet, rührt und knetet, und dann an einem Gasherd, wo ihr Gesicht noch rosiger und glänzender wird. Unter ihren wendigen Fingern entstehen ganze Bleche mit Kohlpastete, Pfannen voller Bratkartoffeln mit Zwiebeln und dampfende Töpfe mit Kohlsuppe und Rinderknochen, genannt
schtschi
.
Das Rindfleisch bekommt Tante Musa von ihren Patientinnen, Frauen, die in Metzgereien oder fleischverarbeitenden Betrieben arbeiten. Sie erzählt mit Vorliebe einen Witz, der für die Knappheit der Lebensmittelvorräte in Stankowo bezeichnend ist:
Ein Mann kommt in einen Fleischerladen. Haben Sie Fisch?, fragt er. Hier haben wir kein Fleisch, sagt die Verkäuferin. Keinen Fisch gibt es auf der anderen Straßenseite.
Der Mangel an Fisch ist meiner Mutter ein großes Rätsel. Sie kann nicht begreifen, weshalb in einer Stadt am Ufer des größten |180| russischen Flusses nirgendwo dessen typischstes Produkt angeboten wird. »
Blat«
, murmelt Tante Musa – man muss eben Beziehungen haben. Musas eigenes
blat
zieht sich durch die gesamte weibliche Bevölkerung der Stadt, und abgesehen von den Kalbshachsen trottet sie hin und wieder mit einem sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelten ganzen Fisch nach Hause, dessen glitschiger Schwanz aus ihrem Einkaufsnetz ragt.
Die wenigen Dinge, die in den Geschäften zu kaufen sind, werden in beinahe leeren Vitrinen zur Schau gestellt, wo ihr einsames Dasein sie zu wahren Delikatessen werden lässt. In Läden, die vom Geruch der Sägespäne auf dem Fußboden erfüllt sind, stoße ich auf Lebensmittel, die ich von zu Hause nicht kenne, und das allein macht sie so verlockend. In einem hallenden Bäckerladen flehe ich meine Mutter an, einen mit einem geheimnisvollen braunen Guss überzogenen Kuchen zu kaufen, der die einzige Ware des Ladens darstellt. Zwei Bushaltestellen von uns entfernt entdecke ich ein Milchgeschäft, und obwohl es gewöhnlich um zwölf Uhr mittags keine Milch mehr gibt, wird dort köstliches, mit Rosinen verziertes Eis verkauft, das von einer behäbigen, griesgrämigen Frau in eine Waffel gestopft wird, neun Kopeken für gerade so viel, wie sie hineinzuschaufeln beliebt.
An den Nachmittagen gehen wir alle an die Wolga. Kostja, Fedja und ich stürmen, so weit wir können, in die braune Unermesslichkeit des Flusses. Kolja lässt am anderen Ende des schmalen Strandes, weit weg von dem Felsen, auf dem wir unsere Kleidung abgelegt haben, Steine übers Wasser springen. Meine Mutter, Tante Musa und Onkel Fedja kommen mit uns ans Wasser.
»Was haben wir doch für ein Glück, so nah an der Wolga zu wohnen!«, ruft meine Tante verzückt. »Seht euch nur diese natürliche Schönheit an. Wo sonst bietet sich einem ein solcher |181| Blick?« Musa scheint in so gut wie allem Schönheit oder Glück zu entdecken, und dieses Mal hat sie Glück, nah am Ufer zu leben, da das heiße Wasser in ihrem Wohnblock vor Kurzem abgestellt worden ist.
Während des Baden-in-der-Wolga-Rituals
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