Goodbye Leningrad
erzählt uns Tante Musa Geschichten aus dem Krankenhaus. Bislang sind alle kurz und komisch gewesen und hatten nichts mit Krankheit zu tun. Doch ich spüre, dass ihre Arbeit, verglichen mit dem Anatomieunterricht meiner Mutter, Respekt einflößend und voller Gefahren ist.
Tanta Musa zieht einen riesigen, zweiteiligen grünen Badeanzug mit gelben Blumen an, während mein hagerer Onkel, dessen Haar sich zu lichten beginnt, sein Fernglas auf ein paar Mädchen richtet, die ein Stück weiter flussabwärts lachend am Ufer herumtollen.
»Das Fieber dieser Frau will einfach nicht sinken«, sagt Tante Musa, während sie ihr Kleid sorgsam zusammenfaltet und auf einen Felsen legt. »Drei Tage nach der Operation glüht sie noch immer wie ein Ofen.«
Gorit i gorit
– glüht und glüht – sie betont die
o
’s genauso wie Kolja, was für meine Leningrader Ohren befremdlich klingt.
»Die üblichen Medikamente schlagen nicht an, die Antibiotika modern noch immer in irgendeinem Lagerhaus vor sich hin, und der Chefarzt ist soeben zu einer Versammlung kommunistischer Würdenträger nach Moskau geflogen.« Tante Musa kann den Verschluss am Rücken ihres Badeanzugoberteils nicht schließen, und meine Mutter muss ein, zwei Minuten heftig zerren, um die beiden Enden zusammenzufügen.
»Ich schiebe sie zurück in den OP und mache sie wieder auf, und was entdecke ich da?«, fährt Tante Musa fort, während sie das Wasser mit einer Zehenspitze prüft. Ihr Bauch ist gewölbt, sogar noch stärker als der meiner Mutter. Ich frage mich, ab |182| wann im Leben einer Frau ihr Bauch die wundersame Wandlung von flach wie meinem zu tonnenförmig wie Tante Musas erfährt.
»In ihren Eingeweiden hat man ein chirurgisches Tuch vergessen«, verkündet Musa. »Ein Tuch im Bauch, dazu eine brodelnde Bauchfellentzündung, keine Antibiotika, und dem Chefarzt wird gerade in Moskau eine Auszeichnung verliehen.«
Ich weiß nicht, wie ein chirurgisches Tuch aussieht, stelle mir jedoch eins von diesen riesigen, quadratischen Leintüchern vor, wie sie an besonderen Festtagen auf dem Tisch liegen. Ein so großes Tuch, befinde ich, passt nur in einen Bauch, der so groß ist wie der meiner Tante. Die Unterhaltung bringt mich jedoch auf unerfreuliche Gedanken, und ich horche gespannt auf Geräusche in meinem Magen, die ich mit dem etwaigen Vorhandensein eines Fremdkörpers verbinde.
»Wer hat das Tuch vergessen?«, fragt meine Mutter mit der Stimme, die sie immer dann einsetzt, wenn es darum geht, jemanden an seine Verantwortung zu erinnern und eine angemessene Strafe zu erteilen.
Tante Musa wiegt ihren Kopf und bewegt ihr Handgelenk auf eine Art und Weise hin und her, die so gar nicht zu ihrem plumpen Aussehen, ihren fröhlichen Rundungen passt. Sie starrt einen Moment lang mit weit aufgerissenen Augen in die Finsternis des Flusses, als versuche sie, in dessen Tiefe, unterhalb der braunen Wasseroberfläche, etwas zu erkennen: »Es war die Schwesternhelferin«, sagt sie schließlich und richtet ihren Blick wieder auf das Ufer. »Sie hat sich mit dem alkoholischen Antiseptikum einen angetrunken.«
»Sie sollte vor Gericht gestellt werden«, konstatiert meine Mutter mit finsterer Miene, und ihre Stimme bebt vor lauter Befriedigung darüber, den Schuldigen ausfindig gemacht zu |183| haben. »Vor Gericht gestellt und verurteilt. Die Patientin hätte daran sterben können.«
Tante Musa watet in das Wasser, das sie mit ihren Händen beiseiteschiebt, als entferne sie irgendeinen unsichtbaren Unrat von der Wasseroberfläche. Als es ihr bis zu den Oberschenkeln reicht, bleibt sie stehen.
»Das ist nicht so einfach. Die Helferin, Alja Swetlowa, hat dort zeit ihres Lebens gearbeitet. Seit dem Krieg hat sie dort geschrubbt und gewaschen. Sie sollte eigentlich wie jeder andere ihre Rente beziehen und Kartoffeln anbauen, stattdessen muss sie Doppelschichten arbeiten, um ihren dreißigjährigen Schwachkopf von einem Sohn zu unterstützen, der sie auch noch verprügelt.«
»Ein Exekutionskommando. Unter Stalin wäre kurzer Prozess gemacht worden – keine Nachforschungen, und das war’s schon«, verkündet mein Onkel, der nicht länger die Mädchen beobachtet, sondern inzwischen auf dem Felsen hockt und die Linsen seines Fernglases mit seinem Hemdsärmel säubert. »Damals wurde man für weit geringere Vergehen erschossen.«
»Wenn man zwei Minuten zu spät zur Arbeit kam, wanderte man ins Gefängnis«, sagt meine Mutter. »Man brauchte nur zu verschlafen und
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