Goodbye Leningrad
das Signal der Fabriksirene zu verpassen, um zu wissen, dass sie mitten in der Nacht an deine Tür klopfen würden. Ich habe erlebt, wie Menschen verschwanden, weil sie den Wecker überhört haben. Damals herrschte noch Ordnung.«
»Ordnung!«, stößt Onkel Fedja hervor und spuckt auf den Boden. »Seht euch doch mal um. Banden von Rowdys an jeder Ecke, betrunkene Krankenschwestern in Operationssälen. Was ist aus der Ordnung geworden?« Seine Arme schnellen in die Höhe. »Eine eiserne Hand – das brauchen die Leute. Sie begreifen Stärke, das ist das Einzige, worauf sie hören. Sobald |184| ein Starker das Sagen hat, kommt über Nacht selbst der letzte Penner zur Räson.«
»Vollkommen richtig«, sagt meine Mutter und stemmt die Fäuste in ihre Hüften, worauf sie wie eine Teekanne aussieht.
Ich bin froh, dass ich nicht geboren wurde, als Stalin das Sagen hatte. Ich verstehe nicht ganz, warum meine Mutter, mein Onkel oder irgendjemand sonst der Ära hinterherweint, als die Menschen ins Gefängnis gesteckt wurden, weil sie zu spät zur Arbeit kamen. Ob auch Schüler ins Gefängnis wanderten, wenn sie zu spät zum Unterricht kamen?
»Ich hatte damals im Krieg einen chirurgischen Notfall«, sagt meine Mutter, die aus ihrer Lehrerfahrung mit keinem vergleichbaren gefährlichen Fall aufwarten kann, weshalb sie diesen aus ihrer chirurgischen Vergangenheit hervorkramen muss. Nur klingt ihre Stimme nicht mehr so bestimmt und selbstbewusst wie einige Minuten zuvor, als sie für eine eiserne Hand plädierte. »Ein neunjähriger Junge wurde damals von einer Mine in die Luft gesprengt, im Frühjahr 1942, als das Eis auf der Wolga zu treiben begann. Die Mutter seines toten Freundes brachte ihn zu mir.« Ich kenne diese Geschichte schon – drei Jungen, die mit Eimern in den Fluss gewatet waren, um die Fische, die nach einer Minenexplosion mit dem Bauch nach oben inmitten von Eisbrocken vorbeitrieben, einzusammeln, und dabei versehentlich eine weitere ausgelöst hatten. Ich weiß, dass meine Mutter am meisten von jener Frau beeindruckt war, die ihren eigenen toten Sohn am Ufer zurückgelassen hatte, um seinen einzigen überlebenden Freund ins zwei Kilometer entfernte Militärkrankenhaus zu tragen.
»Ich war gerade dabei, ihn für die Operation vorzubereiten«, sagt meine Mutter. »Der Junge lag bereits auf dem Tisch, als der Politkommissar hereinstürmte und brüllte, ich sei nicht befugt, Zivilisten in einem Lazarett zu operieren.«
|185| »Was hast du dann getan?«, fragt Onkel Fedja, der einen Stein ins Wasser wirft, und ich bemerke, dass Tante Musa ihn genauso ansieht wie Wera Pawlowna Dimka, den Rowdy, als er gefragt hat, warum die Große Sozialistische Oktoberrevolution im November gefeiert werde.
»Ich habe das getan, was ich zu tun hatte, operiert«, sagt meine Mutter. »Er befahl mir, den Jungen, sobald ich fertig sei, in ein Zivilkrankenhaus zu verlegen. ›Wir werden sehen‹, sagte ich.« Sie kreuzt die Arme über der Brust, so wie sie es vermutlich fünfundzwanzig Jahre zuvor auch getan hat.
»Und was geschah dann?«, fragt Onkel Fedja, der inzwischen aufgehört hat, mit Steinen zu werfen, und meine Mutter interessiert ansieht.
»Als ich fertig war, suchte ich Dr. Kremer, den Leiter des Lazaretts, auf. Er war ebenfalls Chirurg und hatte Verständnis. Er erwies sich als
intelligentni
. Wir kamen überein, dass der Junge drei Tage dortbleiben würde, damit ich mich davon überzeugen konnte, dass die Nähte in Ordnung waren und es keine Infektion gab. Am vierten Tag brachten wir ihn in ein Zivilkrankenhaus.«
Intelligentni
ist ein facettenreiches Adjektiv, das meine Mutter mit Vorliebe verwendet, um Menschen zu charakterisieren. Es ist ein Potpourri aus Bildung, Kultiviertheit, Intelligenz und guten Manieren, gepaart mit einer gewissen Weltsicht, die eine Alternative zulässt. Der Politkommissar, der meine Mutter anfuhr, weil sie gegen militärische Vorschriften verstieß, war natürlich nicht
intelligentni
. Der Leiter des Lazaretts, der zusammen mit ihr gegen die Vorschriften verstieß, hingegen schon.
Diesen Richtlinien zufolge ist Onkel Fedja mit seinen kurzsichtigen Ansichten und seiner Vorliebe für eiserne Hände alles andere als
intelligentni
, während die Chancen für Tante Musa mit ihrem Mitgefühl und gesundem Menschenverstand gar |186| nicht so schlecht stehen. Ich versuche, die Leute, die ich kenne, in
intelligentni
beziehungsweise nicht
intelligentni
einzuteilen, wobei die erste
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