Goodbye Leningrad
Liste sehr viel knapper ausfällt als die zweite. Nicht
intelligentni
: Tante Polja aus meinem Kindergarten, meine Lehrerin in der dritten Klasse, Wera Pawlowna, Ljuda aus dem Zug, sämtliche Verkäuferinnen in Lebensmittelläden.
Intelligentni
: meine Englischlehrerin Irina Petrowna.
Und was ist mit meiner Mutter und Marina? Sie sind zwar gebildet, aber nicht wirklich kultiviert. Meine Mutter hat ihren Badeanzug nicht nach Stankowo mitgenommen, weshalb sie in ihrem weißen Büstenhalter und ihrem rosafarbenen Schlüpfer schwimmt. Vor allem jedoch erheben beide die Stimme, sowohl gegen mich als auch gegeneinander, wodurch sie automatisch aus der Kategorie
intelligentni
herausfallen.
Muss man aber selbst
intelligentni
sein, um darüber zu befinden, ob andere es sind? Bin ich
intelligentni
?
Ich beobachte, wie die Sonne hinter der gezackten Linie des Waldes am gegenüberliegenden Ufer versinkt. Mein Onkel prüft das Wasser mit seinem Fuß, und ein Schauer läuft durch seinen hageren Körper.
»Cholod sobatschi«
– »lausig kalt«, sein Lieblingsausdruck, allerdings rollen die
o
’s nicht über seine Zunge, weil er aus der Moskauer Gegend kommt.
Tante Musas Bewegungen im Wasser, ihren zögerlichen Schwimmzügen entnehme ich, dass auch sie von den Vorteilen einer eisernen Hand oder dem Nutzen des Verhaftens und Erschießens nicht wirklich überzeugt ist. Ich spüre, dass sie wie Kolja an Strudel glaubt, an die Macht des Flusses, an die darin lauernden Gefahren, weshalb ich im Zweifel zu ihren Gunsten entscheide und sie auf meine kurze
intelligentni -Liste
setze.
|187| Wir holpern in einem Bus über ausgefahrene Straßen zu einem nahe gelegenen Dorf, um unsere Vorräte an Milch und Brot aufzustocken, wobei meine Mutter, Tante Musa und meine Cousins mit leeren Körben ausgerüstet sind. Als der Bus uns mitten auf einem Schotterweg absetzt, wandern wir auf einem Pfad durch Felder, die mit den blauen Sternen der Kornblumen und den leuchtend roten Schmetterlingen der wilden Wicken gesprenkelt sind. Ich bin froh, dass ich einen Pullover dabei habe, denn ich friere, obwohl die Sonne auf uns niederbrennt und mein Cousin Kostja sein Hemd aufgeknöpft hat.
Durch ein Feld mit Unkraut gelangen wir zu einer
isba
, einem Blockhaus am Waldrand, dessen Strohdach sich auf zwei niedrige Fenster herabsenkt. Eine Frau mit Kopftuch steigt watschelnd die beiden Stufen am Eingang herunter.
»Sachodite, sachodite«
, bittet sie uns mit ihrem zu einem zahnlosen Lächeln verzogenen Mund herein. Sie ist alterslos, trägt ein schwarzes Kleid aus grobem Leinen, über ihre sonnengebräunten Hände schlängeln sich Adern. Als meine Augen sich allmählich an das Zwielicht im Eingang gewöhnt haben, erkenne ich eine auf einem Strohlager liegende Ziege und eine Henne, die gackernd eine Schar brauner Küken umkreist. Die Küken trippeln davon, die Ziege stellt sich mühsam auf ihre spindeldürren Beine, und zu siebt – zu viele für den einzigen Raum des Hauses – drängen wir uns vor einem russischen Ofen, einer Backsteinmauer mit einer Öffnung in der Mitte, die zum Kochen genutzt wird, und oben einem Sims zum Schlafen.
Ich habe noch nie einen echten russischen Ofen gesehen. Jeder weiß aus den russischen Märchen, wie er aussieht; Iwan der Dumme schläft immer auf einem, während ernsthaftere Figuren den Tag mit Reiten oder dem Anbau von Weizen verbringen. Dieser russische Ofen ist jedoch ganz schwarz vor |188| Ruß, und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand auf dem schmalen Backsteinsims liegt.
Die alterslose Frau möchte, dass wir ihren Hüttenkäse und den gelben Schmand und das Schwarzbrot, das sie im russischen Ofen gebacken hat, kosten. Um uns vorzuführen, wie stichfest ihr Schmand ist, steckt sie in die Mitte der bis zum Rand gefüllten Schüssel einen großen Löffel, der wie ein stolzer Fahnenmast aufrecht darin stecken bleibt, ein Beweis für die Vorzüge hausgemachter Speisen. Sie bringt einen Krug mit schäumender Ziegenmilch.
Ich trinke die Milch nicht, wegen ihres strengen Geruchs, und der Schmand zergeht auf meiner Zunge zu einer Fettlache. Während ich mir etwas Brot nehme, verschlingen meine Cousins ganze Schalen mit Hüttenkäse und dick mit Butter bestrichene Brocken Brot. »Iss, iss«, drängt meine Mutter und stößt mir den Ellbogen in die Seite, obwohl ich ein flaues Gefühl im Magen habe und mir gar nicht nach Essen zumute ist.
Schließlich verlassen wir die
isba
, nachdem wir für unsere
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