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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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ausgesucht, weil Kolja von seiner Existenz wusste.
    Ich blicke hinunter auf die Wolga, auf die Stille, die über ihre Tücken hinwegtäuscht, auf ihr lockendes Schweigen. Die Rad schlagende Mascha ist fort, und mein Onkel, der aus irgendeinem Grund sein Fernglas nie auf den Fluss richtet, beobachtet inzwischen ein paar vereinzelte Gestalten, die sich am gegenüberliegenden Flussufer vor dem Abendhimmel abzeichnen. Ich steige aus meinen Schuhen und gehe über den hart gewordenen Schlick ins wartende Wasser. Der lauwarme, wohltuende Fluss umschließt meine Füße, küsst meine Beine, liebkost meinen Rücken. Seine Schwärze ist überwältigend, betörend, unwiderstehlich. Während ich immer tiefer hineinsteige, gleitet der Grund unter meinen Füßen davon und überlässt meinen langsam rotierenden Körper der liebevollen Umarmung des Strudels.
     
    Als mein Fieber nachlässt, verdoppelt Tante Musa ihre Bemühungen, meine Taille nicht nur um neue Pfunde zu bereichern, sondern auch manch eines, das ich während meiner Krankheit eingebüßt habe, wieder zu ersetzen. Eine schlimme Grippe, sagt sie, wenn ich sie frage, was es denn gewesen sei. Sie singt beim Kneten und Schneiden   – alte Balladen und Lieder aus dem Radio und aus Filmen. Sie muss das ungenutzte Operntalent meiner Großmutter geerbt haben: Ihre Stimme erklingt in anspruchsvollen Koloraturen, die sich rasch in ihrer kleinen Küche verfangen. Ich nippe folgsam an ihrem
schtschi
, kaue auf ihren
piroschki
und bin meinen drei Cousins dankbar dafür, dass sie in wenigen Minuten einen üppig gedeckten Tisch leerputzen können.
    Ich sehe ihr dabei zu, wie sie mit ihren dicken Händen, die erstaunlich graziös sind, vor dem Herd hin und her tänzelt, |192| wobei ihr ganzer Körper sich dem Ritual des Essenzubereitens hingibt, es zugleich aber ganz und gar unter Kontrolle hat. Ich würde sie gern fragen, was aus der Patientin mit dem Tuch im Bauch geworden ist. Ich würde sie gern nach den unbestimmten Gefahren fragen, die offenbar an den alltäglichsten Orten lauern, aber es kommt mir sowohl gefährlich als auch töricht vor, etwas dermaßen Vages, bloße Bilder, die durch meinen fiebernden Kopf geistern, auszusprechen und ihnen damit Gültigkeit zu verleihen.
    Ich wundere mich, dass ich mich überhaupt an diesen Traum erinnere. Es gibt nur noch einen weiteren, der nicht gleich beim Erwachen verflogen ist, und wahrscheinlich ist er mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil er so seltsam war. In diesem Traum saß mein Vater in seinem Boot und sprach über das, was geschieht, bevor der Vorhang aufgeht, so als wäre er selbst Schauspieler. Die Menschen im Publikum hielten den Atem an und kein Laut wäre mehr zu hören, sagte er, kurz bevor die Magie beginne. Lass die Magie nicht entwischen, warnte er mich. Versinke nicht im Treibsand des Gewöhnlichen.
    Erkannte er die Magie im echten Leben? Oder erinnere ich mich deswegen noch so gut an diesen Traum, weil ich mir genau das gewünscht hätte?
    Ich frage mich, ob Tante Musas Erlebnis mit dem Tuch wohl auch damals möglich gewesen wäre, als mein Vater noch am Leben war, als Onkel Fedja und meiner Mutter zufolge noch Ordnung herrschte. Ich frage mich, wie ordentlich diese Ordnung gewesen sein muss, wenn mein Onkel unser heutiges Schritthalten mit dem Kollektiv für einen anarchieähnlichen Zustand hält. Dabei gab es doch selbst in der damaligen Ordnung Menschen, die man als
intelligentni
bezeichnen konnte, Verantwortliche wie Dr.   Kremer im Lazarett meiner Mutter, der sich bewusst über die militärischen Vorschriften hinwegsetzte. |193| War das Leben damals einfacher? Gab es weniger Gefahren, oder mehr? Hätten die Eltern meiner Freundin Mascha auch damals beschlossen, ihr den russischen Namen ihrer Mutter statt des jüdischen ihres Vaters zu geben?
    Ich denke nur ungern daran, was mein Onkel wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass Maschas Eltern diesen Beschluss deswegen fassten, weil sie hofften, dass ihre Tochter es so leichter haben würde im Leben.
    Juden, würde er sagen. Denen kann man nicht trauen. Sie waren im Krieg Feiglinge und haben sich vor den Kugeln an der Front versteckt. In Kellern und auf Dachböden haben sie sich versteckt, während unsere russischen Jungs ihr Blut vergossen haben.
    Ich habe keine Ahnung, wie Onkel Fedja, der während des Krieges bloß einfacher Soldat war, zu einem so umfassenden Einblick in die Dinge kommt. Deshalb hege ich seinen Ansichten gegenüber größte Vorbehalte und

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