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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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ihr zuhören.
    Nina Sergejewna, deren ergrauendes Haar um ein Eichhörnchengesicht herum hochgesteckt ist, erzählt uns von den
lischnije ljudi
, den überflüssigen Menschen. Es gebe in unserer Literatur eine ganze Galerie solcher Gestalten.
Galerija lischnich ljudej
, sagt Nina Sergejewna, worauf eine Fettrolle unter ihrem kinnlosen Unterkiefer zu beben beginnt. In der sechsten Klasse waren es Puschkins Onegin und Lermontows Petschorin aus ›Ein Held unserer Zeit‹. Verdorben, wie sie aufgrund ihrer adeligen Herkunft und ihres vermögenden familiären Hintergrundes waren, zogen sie kreuz und quer durch Russland und Europa und hatten nichts anderes im Sinn, als einander zu duellieren, zu spielen und die Herzen unschuldiger Frauen zu brechen, ohne sich einen Deut um das Schicksal der Leibeigenen oder unterdrückten Massen im Allgemeinen zu scheren. Dann war Gontscharows Oblomow an der Reihe, der sein Leben schlafend auf einem Diwan zubrachte, von dem er sich noch nicht einmal dann erhob, als die Frau, die er verehrte, |197| an die Tür seines Anwesens klopfte. Jetzt ist es Turgenjews Lawrezki, der sich nicht dazu durchringen konnte, den Adeligen mit ihren Leibeigenen die Stirn zu bieten, da er nicht genügend Willensstärke besaß, um sich von der verwöhnten Klasse, aus der er hervorgegangen war, loszueisen.
    Ich stelle mir mich als Lisa vor und Andrei, den einzigen Jungen in meiner Klasse, der ein Partizip von einem Gerundium unterscheiden kann, als Lawrezki. Es ist Nacht, und wir befinden uns im Obstgarten   – in all unseren Romanen kommt ein Obstgarten vor, so groß und dicht wie ein Wald   –, und Andrei kniet zu meinen Füßen. Meine Schultern beginnen zu zucken, und die Finger meiner blassen Hände legen sich noch dringlicher auf mein Gesicht. Andrei weiß natürlich, was diese zuckenden Schultern und diese Tränen bedeuten. Ist es möglich, dass du mich liebst?, flüstert er. Ich habe Angst, sage ich immer wieder, während ich ihn mit feuchten Augen ansehe. Ich liebe dich, sagt er, ich bin bereit, dir mein ganzes Leben zu schenken. Ich erschauere und schlage die Augen nieder; er zieht mich wortlos an sich, und mein Kopf sinkt auf seine Schulter. Er dreht den Kopf ein wenig zur Seite und berührt meine blassen Lippen.
    Ich weiß natürlich, dass Andrei so alt ist wie ich und viel zu jung, um Lawrezki zu sein, der verheiratet ist und ein Kind hat, aber das spielt keine Rolle, solange er in mich, Lisa, verliebt ist. Am Ende von ›Ein Adelsnest‹ taucht Lawrezkis Frau, die untreu gewesen und dementsprechend auf den ersten hundert Seiten übergangen worden ist, ganz unerwartet und reumütig zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt auf, woraufhin Lisa in ein Kloster geht. Die letzte Szene ist tragisch. In den acht Jahren zwischen dem Ende des Romans und dem Epilog (es gibt immer einen Epilog) ist Lawrezki zu einem alten Mann mit grauem Haar und Spazierstock geworden. Ich male mir |198| aus, wie Andrei mich im Kloster besucht und ich dicht an ihm vorübergehe, ohne aufzublicken, mit dem lammfrommen Gang einer Nonne, und allein meine Wimpern beben, während die Finger meiner von Rosenkranzperlen gesäumten, gefalteten Hände sich noch fester zusammenpressen.
    Trotz all dieser Szenen, die sich in meinem Kopf abspielen, weiß ich genau, dass ich mich nie in ein Kloster zurückziehen würde, falls sich beispielsweise herausstellte, dass Andrei mit meiner Klassenkameradin Katja verheiratet ist. Mir fallen etliche Dinge ein, die ich machen würde: Ich könnte das Buch, das er gerade liest, von seinem Schoß reißen und ihm auf den Kopf schmettern. Ich könnte mich aus meinem Pult zwängen, verzweifelt aus dem Klassenraum stürzen und einen unfertigen Aufsatz über den Kampf des einfachen Volkes gegen das Joch der Leibeigenschaft im zaristischen Russland zurücklassen, ohne auf Nina Sergejewna zu hören, die in ihren Filzstiefeln durch den Flur rennen und mir hinterherrufen würde, ich solle auf der Stelle zurückkommen. Ich könnte sogar so weit gehen, Katja zu eröffnen, dass wir nicht mehr miteinander reden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, mich in einem Kloster zu vergraben, damit Andrei am Ende seines Lebens, gebeugt und gebrochen, sieht, wie meine Wimpern beben und meine Hände Rosenkranzperlen umklammern. Ich bin offenbar nicht so stark und rein wie Turgenjews Heldinnen, außerstande, den moralischen Konflikt zwischen persönlichem Glück und Pflicht auf die korrekte, klassische Art und Weise zu lösen, und

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