Goodbye Leningrad
habe meine Freundin Mascha ihm gegenüber noch kein einziges Mal erwähnt, wobei ich es sehr merkwürdig finde, dass gerade Onkel Fedja und Mascha in meinem Fiebertraum einander über den Weg gelaufen sind.
»Können wir schwimmen gehen?«, frage ich Tante Musa, die gerade mehrere Küchenhandtücher um eine Schüssel mit frisch angesetztem Teig gewickelt hat.
»Kein Schwimmen mehr für dich, mein Herzchen«, sagt sie und wischt ihre mehligen Hände an ihrer Schürze ab. »Nach deinem hohen Fieber ist es für dich vorbei mit dem Schwimmen, bis du nach Hause fährst. Aber du kannst mit uns an den Fluss kommen – frische Luft tut dir gut.« Ich bin mir nicht sicher, ob meine Mutter einen so verfrühten Ausflug gutheißen würde, aber da man mir die Erlaubnis erteilt hat, laufe ich zur Tür, vor der meine verwaisten Straßenschuhe, die inzwischen |194| durch Stankowos Staub so gut wie ruiniert sind, eine ganze Woche lang geduldig gewartet haben.
Wir laufen auf dem vertrauten Pfad, den meine Cousins hinunterstürmen, während meine Mutter, meine Tante und mein Onkel nur zögerlich mit kleinen Schritten folgen. Ich befinde mich am Ende dieser kleinen Prozession, wobei jeder einzelne Schritt in meinem Kopf widerhallt und meine seit einer Woche nicht mehr genutzten Muskeln unter der Haut zittern.
Unten auf dem harten, schmalen Strand zieht Tante Musa ihren zweiteiligen grün-gelben Badeanzug an und legt ihren riesigen weißen Büstenhalter und ihre Unterhose sorgfältig zusammen. Ich warte darauf, dass sie wieder von ihrer Patientin erzählt, doch sie steht an der Linie, wo das dunkle Wasser leise zu ihren Füßen seufzt, und blickt in die Ferne, wo Kostjas unüberhörbares Geplansche das Öltuch des Flusses aufreißt.
Meine Mutter und Onkel Fedja sitzen auf dem Felsen und unterhalten sich. Ihrer Körpersprache entnehme ich, dass sie die Geschichte ihres Onkels Wolja erzählt. Ich habe sie schon öfter gehört, wenn sie sie meinem Vater und unseren Nachbarn aus dem zweiten Stock erzählte. Im Jahr 1937 habe ihr Onkel, der in einem Propagandabüro arbeitete, einen Gast aus Moskau in ein Restaurant ausgeführt und ihm einen Witz erzählt.
»In der Nacht, als sie kamen, um ihn mitzunehmen, sagte er zu seiner Frau, Tante Lilja, und zu seiner fünfzehnjährigen Tochter Anja, es sei alles ein Irrtum, ein Missverständnis, er werde schon bald wieder zurück sein.«
»War er das?«, fragt Onkel Fedja.
Wenn Onkel Fedja weiß, was während des Krieges an der Front geschah, wenn er weiß, wo die Juden sich versteckten, dann müsste er eigentlich wissen, wie die Antwort auf diese Frage lautet. Anstelle meiner Mutter würde ich ihm nicht erzählen, |195| was ohnehin sonnenklar ist. Aber meine Mutter tut ihm den Gefallen, da sie zu gern Geschichten aus ihrem Leben erzählt.
»Es heißt, er sei bei einem Fluchtversuch erschossen worden«, sagt sie. »Später wurde er posthum rehabilitiert, als Tante Lilja und seine Tochter Anja bereits tot waren. Anja machte bei Ausbruch des Krieges eine Ausbildung zur Krankenschwester, meldete sich freiwillig an die Front, um ihren Vater zu rächen, und kam 1942 ums Leben. Eine Kugel hat sie erwischt, so wie sie es sich gewünscht hatte, sie musste nicht lange darauf warten.«
Ich bin mir nicht sicher, ob Onkel Woljas posthume Rehabilitation irgendjemandem genützt hat, da weder seine Frau noch seine Tochter lange genug gelebt haben, um etwas davon zu haben.
Jedenfalls scheint diese einstige Ordnung, wie sie von Onkel Fedja so gepriesen wird, das Leben weder leichter noch sicherer gemacht zu haben. Jemanden zu erschießen, weil er einen Witz erzählt hat, ist wohl kaum besser, als ein chirurgisches Tuch im Bauch einer Patientin zu vergessen.
Meine Beine versagen, und ich hocke mich ins Gras, neben meinen Cousin Kolja, der irgendetwas zwischen seinen Zehen sucht. Tante Musa hatte recht, mich nicht schwimmen zu lassen, denn mein Kopf dröhnt wie eine Trommel, und vor meinen Augen flimmern unzählige goldene Punkte. Während die Sonne auf den Fluss zugleitet, starren Kolja und ich ins schwarze Wasser, das, wie ich jetzt ganz sicher weiß, voller unsichtbarer Strudel ist.
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EINE LEKTION IN RUSSISCHEN KLASSIKERN
»Der moralische Konflikt in Turgenjews Roman ›Ein Adelsnest‹ spielt sich zwischen persönlichem Glück und Pflicht ab«, sagt unsere Lehrerin Nina Sergejewna mit einem Blick über ihre Brille, um sich zu vergewissern, dass wir ihr auch zuhören. Wir tun so, als würden wir
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