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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Einkaufsnetze mit Brotlaiben, Gefäßen voll Schmand und Hüttenkäse und einem in eine Plastiktüte eingewickelten beachtlichen Stück Butter acht Rubel bezahlt haben. Kostja, mein ältester Cousin, geht vorsichtig, weil er ein Drei-Liter-Gefäß mit Ziegenmilch an seine Brust drückt. Während wir auf den Bus warten, friere ich dermaßen, dass Tante Musa ihren Schal um mich wickelt, aber trotzdem fröstle ich weiter. Sie legt ihre Handfläche auf meine Stirn, schüttelt den Kopf und sagt, ich werde krank.
     
    In der Nacht glühe ich und schwitze und habe merkwürdige Träume. Ich träume von meinem Cousin Kolja, der sich nicht traut, in der Wolga zu schwimmen, da es darin Strudel gibt. Die
o
’s im russischen Wort für Strudel,
wodoworot
, perlten wie |189| eine Handvoll Erbsen über seine Zunge, als er mir am Fuße des steilen Wolgaufers, wo braunes Wasser, in dem man nach wenigen Schritten keinen Grund mehr spürt, in kleinen, trägen Wellen die schlammige Erde bespült, von seiner Angst erzählte.
    In meinem Traum waten Kolja und ich in den Fluss und bahnen uns einen Weg durch das Wasser. Eine Unterströmung kitzelt mich an den Fußgelenken und lässt mich einen Moment lang still stehen. Kolja geht bis zur Brust hinein, dann bis zum Hals, und weiter, bis ich nur noch seine Ohren seitlich aus seinem runden Kopf ragen sehe. Ich habe Kolja noch nie so tief im Fluss gesehen. Ich versuche, ihm etwas zuzurufen, doch aus meinem Mund kommt kein einziger Laut, sosehr ich mich auch bemühe. Er geht langsam weiter, als erinnere er sich an seine Angst, und ich weiß, dass er sich direkt in den Strudel begibt. Noch ein Schritt, schon wird er vom Sog erfasst, und dann sehe ich nur noch, wie sein Kopf auf der Wasseroberfläche herumwirbelt, während er immer weiter vom Ufer fortgetragen wird.
    Ich stolpere zurück zum schmalen Strand, wo mein Onkel in Badehose durch das Fernglas meine Schulfreundin Mascha dabei beobachtet, wie sie in ihrem Turnanzug Rad schlägt. Mir ist schleierhaft, wie Mascha aus Leningrad, wo sie eigentlich ihre Sommerferien verbringt, nach Stankowo gekommen sein mag, freue mich aber, denn so kann ich ihr von Kolja und dem Strudel erzählen. Es hat keinen Zweck, meinem Onkel davon zu erzählen, der, fasziniert von der Rad schlagenden Mascha, wie gebannt durch sein Fernglas starrt.
    Um zu Mascha zu gelangen, muss ich die Uferböschung erklimmen, die derart steil ist, dass sie, als ich mich ihr nähere, wie eine Wand vor mir aufragt. Sie schließt sich wie der Deckel eines Koffers über mir, und ich weiß, dass ich Kolja, auch wenn |190| ich mich noch so sehr bemühe, nicht mehr aus dem Strudel retten kann.
    Ein kühles Gewicht liegt auf meiner Stirn, und der Kofferdeckel öffnet sich einen Spalt. Ich sehe eine Hand, die etwas Weißes, Nasses auf meinen Kopf legt. »Eine Kompresse gegen dein Fieber«, sagt die Stimme meiner Tante. Aber ich weiß sogleich, dass es ein chirurgisches Tuch ist, also zerre ich es fort, weil ich nicht möchte, dass es am Ende noch in meinen Bauch eingenäht wird. Die Hand wehrt sich und legt die Kompresse erneut auf meine Stirn, doch ich schreie, und als die Hand zurückweicht, kann ich ans Ufer zurückrennen, wo der Strudel um Kolja herumwirbelt.
    Als ich das Flussufer hinuntertorkle und hinter mir kleine Felsbrocken ins Rollen geraten, pulsiert in meinem Kopf im Rhythmus meiner Schritte eine Frage: Warum musste von allen Kindern, die im Fluss schwimmen, gerade Kolja in den Strudel geraten? Warum nicht die Mädchen, die in ihren Bikinis am Strand herumtollen, oder Igor von gegenüber, der auf seinem rostigen Fahrrad zum Fluss holpert, oder mein Cousin Kostja, der von der Gefahr nichts wissen will? Warum nicht ich?
    Nicht ich, nicht ich, nicht ich, ein kleiner Hammer pocht gegen meine Schläfe, als man mir erneut ein feuchtes Tuch aufs Gesicht zu legen versucht, und wieder schreie ich wie am Spieß. Die Hand bleibt auf meiner Stirn liegen und fühlt sich in ihrer kühlen Schwere so angenehm und wohltuend an. Einen Moment lang halte ich in meinem Sturz die Uferböschung hinab inne und versuche zu begreifen, warum gerade Kolja von der Unterströmung fortgerissen wurde. Das Wasser unter mir ist schwarz wie Öl und schimmert in den letzten schwachen Sonnenstrahlen; keinerlei Insekten gleiten über seine Oberfläche, keine Boote schneiden in seine Masse. Durch die dunstige, drückende Luft sinkt die Antwort wie ein Fels durchs Wasser: Der |191| Strudel hat sich Kolja genau deswegen

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