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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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das mag der Grund dafür sein, dass der schlaksige Andrei mit den grünen Augen, der Junge, der mein Inneres zum Schmelzen bringt, sich nicht nach mir umdreht.
    Zu Hause spreche ich nicht über Andrei. Meine praktische Mutter hält romantische Verliebtheit für ungehörig und reine Verschwendung, es sei denn, sie führt zur Heirat. Dass sie gelegentlich |199| eine Augenbraue hochzieht und meiner Schwester, die siebenundzwanzig und noch immer unverheiratet ist, einen schrägen Blick zuwirft, sagt mir, dass sie es nicht gutheißen würde. Siebenundzwanzig ist ein gefährliches Alter für eine noch unverheiratete Frau, nur zwei Jahre jünger als Natalija aus Turgenjews ›Ein Monat auf dem Lande‹, die, wie jedermann weiß, als Frau mittleren Alters geschildert wird.
    Meine Schwester hat zum Heiraten keine Zeit. Morgens hat sie Proben und abends steht sie auf der Bühne, alles Beschäftigungen, die viel erstrebenswerter und bedeutungsvoller sind, als sich für Fleischwurst in eine Schlange zu stellen oder über einen Topf Borschtsch zu beugen. Das sieht meine Mutter jedoch anders. Sie macht das Theater mit seinen Aufführungen zu später Stunde und den unregelmäßigen Arbeitszeiten verantwortlich für Marinas ausbleibende Verehrer, ihren Status als ledige Frau und wahrscheinlich auch ihr einsames, kinderloses Leben.
    Zu Hause spricht meine Mutter über Thunfisch in Dosen, der angeblich aus den Läden verschwunden ist, und über unsere Nachbarin Olga aus dem vierten Stock, die ihr Haar mit Wasserstoff blondiert, so dass es wie Stroh aussieht. Aber anstatt über verschwindenden Thunfisch oder das gelbe Haar unserer Nachbarin würde ich lieber über persönliches Glück und Pflicht sprechen. Schließen sie einander immer aus, so dass nur das eine oder das andere erlangt werden kann? Turgenjew, der mit melancholischen Augen von der Wand unseres Klassenzimmers für Literatur auf uns herabschaut, scheint dieser Meinung zu sein. Mit seinem weißen Bart samt Schnurrbart und dem sich auf der Stirn traurig kräuselnden Haar sieht er so desillusioniert und alt aus wie Lawrezki im Epilog zu ›Ein Adelsnest‹.
     
    |200| Meine Schwester sitzt am Küchentisch und schlürft vor einer Abendvorstellung ihre Suppe. Sie trägt einen Pferdeschwanz und einen Pony, der bis zu ihren perfekt geschwungenen Augenbrauen herabreicht. Ich wünschte, ich hätte die Gesichtszüge meiner Schwester, ihre großen Augen und hohen Wangenknochen, anstatt meines Gesichts mit lauter Sommersprossen und den ersten Pickeln. Vielleicht würde Andrei mich ja dann genauso ansehen wie meine Freundin Katja.
    »Iss deine Suppe mit Brot«, sagt meine Mutter, die keine Gelegenheit verstreichen lässt, uns immer weiter zu mästen.
    »Ich möchte kein Brot«, faucht Marina mit einem Blick auf ihre Uhr, da sie fünfundvierzig Minuten vor dem Vorhang in der Garderobe sein muss. Ich sehe, wie meine Mutter ihren Mund zu einer Ansprache über den Nährwert von Getreide öffnet, und trete in einen Präventivstreik.
    »Wir haben einen Aufsatzwettbewerb in der Schule«, sage ich. Gegen Ende des heutigen Unterrichts hat Nina Sergejewna, nachdem sie die Leben von Turgenjews Adligen als richtungs- und bedeutungslos bezeichnet hat, den Aufsatzwettbewerb für die siebten Klassen angekündigt.
    »Zu welchem Thema?«, fragt Marina, während sie die Schüssel schrägt hält und die letzten Suppentropfen auslöffelt.
    »Egal was. Einen Roman, eine Geschichte oder ein Theaterstück beschreiben und analysieren.« Ich halte nach dem Wort »Theaterstück« kurz inne und lasse dessen Bedeutung in mir nachklingen.
    Marina steht auf und spült ihren Teller unter dem Wasserhahn. »Ich muss los.«
    Ich weiß, dass in ihrem Theater ein neues Stück aufgeführt wird, mit dem faszinierenden, fremdartig klingenden Titel ›We Bombed in New Haven‹. Ein amerikanisches Stück in einem Leningrader Theater, ein Phänomen, das so unwahrscheinlich |201| klingt wie Abendessen ohne Suppe. Ich habe am Newski-Prospekt das Plakat mit einem Mann in schwarzem Fliegeranzug und einem Totenschädel in der Hand gesehen, der ganz niedergeschlagen wirkte und an Hamlet erinnerte. Darüber werde ich schreiben, habe ich beschlossen: über dieses Theaterstück, dieses ausländische, gewiss ausverkaufte Wunderwerk, das ich mir auf irgendeine Weise ansehen werde, ganz gleich, ob Marina sich bereit erklärt, mich mitzunehmen, oder nicht. Sie weiß noch nichts von meinem Plan. Sie weiß so vieles nicht über mich, Dinge,

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