Goodbye Leningrad
nachzudenken, die in irgendwelchen
tschuschoi -Mägen
landeten, wie sie sich über
seljoni smei
den Kopf zerbrachen.
Von unseren Plätzen in der siebten Reihe habe ich einen einwandfreien Blick auf die offene Bühne, und die Tatsache, dass es keinen Vorhang gibt, ist für jeden bis auf meine Mutter sogleich ein Hinweis darauf, dass das Stück modern ist, ganz anders als Gorkis verstaubtes ›Nachtasyl‹, das wir erst zwei Monate zuvor hier gesehen haben. Meine Mutter blickt zur Bühne und stößt nur ein Wort hervor:
besporjadok
, Unordnung, das sie immer dann sagt, wenn ich mein Uniformkleid über einem Stuhl hängen lasse oder in unserer Wohnung am Silvesterabend ohne Vorwarnung die Heizung abgestellt wird |204| oder kein Hausmeister in Sicht ist, um vor dem Eingang zu unserem Wohnblock eine vereiste Stelle zu beseitigen. Meine Mutter mag weder die auf der Bühne übereinandergestapelten grauen Würfel noch die Silhouetten ausländischer Städte im Hintergrund. Ihr gefällt nicht, dass im Programmheft Slawas Name neben dem der Hauptfigur, Sergeant Henderson, steht.
Während sie dasitzt und alles missbilligt, setzt die Musik ein, so dass sie nun auch die Musik ablehnen kann. Nach den ersten zehn Minuten steht fest, dass es sich um ein Stück im Stück handelt und die Schauspieler auf der Bühne so tun, als seien sie amerikanische Schauspieler, die so tun, als seien sie Piloten der amerikanischen Armee. Sie stolzieren in schwarzen Fliegeranzügen umher, die der Uniform irgendeines russischen Soldaten nicht im Entferntesten ähnlich sehen, da die Anzüge derart schmuck sind, dass es selbst unserem Modehaus am Newski-Prospekt mit seinem einzigen Schaufenster mit Kleidung außerhalb des Fünf-Jahres-Plans nicht leicht fiele, etwas Vergleichbares herbeizuzaubern.
Slawa-Henderson trägt das Textbuch mit sich herum, damit das Ensemble – die amerikanischen Schauspieler, die von den Schauspielern aus Marinas Theater gespielt werden – erfährt, worum es eigentlich geht. Dem Text zufolge wird er im zweiten Akt getötet, was ihn allerdings nicht weiter beunruhigt. Schließlich ist es bloß Theater und das Textbuch reine Fiktion, die nichts mit der Realität zu tun hat. Es ist Theater, ein Ort faszinierender, magischer Verstellung, ganz anders als die betäubende Verstellung, die unseren Alltag bestimmt.
Doch dann wird ein Unteroffizier bei einem Einsatz getötet, und der Schauspieler, der ihn verkörpert hat, verschwindet. Vielleicht ist ja doch nicht alles nur Verstellung, denkt Slawa-Henderson. Vielleicht wurde der Schauspieler tatsächlich getötet; so stand es ja auch im Textbuch. Slawa hält den blutverschmierten |205| Helm des Schauspielers, und meine Handflächen sind feucht vor Bewunderung darüber, wie sein Flüstern bis zur obersten Loge dringt, wo ein Beleuchter zwei riesige Scheinwerfer an Metallgriffen schwenkt. Ich werfe meiner Mutter einen verstohlenen Blick zu, doch ihr Gesicht trägt die übliche ernste Maske, und ich kann nicht beurteilen, ob auch sie insgeheim Slawas schauspielerisches Talent bewundert.
Slawa-Hendersons Monolog bringt mir den Aufsatz in den Sinn, den ich für meinen Literaturunterricht schreiben muss. Da Nina Sergejewna uns ermahnt hat, dass die Moral des Werkes unserer Wahl über dessen Entstehungszeit hinausreichen und sich auf unser heutiges Leben übertragen lassen müsse, scheint mir dieser Stoff denkbar geeignet. Soweit ich es beurteilen kann, geht es in diesem Stück um die Gefahren der Verstellung und demnach um uns und unser
wranjo
-Spiel. Wir alle wissen, dass wir uns genauso wie die Figuren in diesem Stück verstellen müssen. In der Schule tun Andrei und ich so, als seien wir gehorsame Pioniere, eines jungen Lenin würdig, dessen Profil an unsere Uniformen gesteckt ist. Meine Mutter tut so, als sei Onkel Wolja 1937 verhaftet worden, weil er ein
wrag naroda
, ein Feind des Volkes, gewesen sei, und nicht etwa einfach nur, weil er Pech hatte, als er in einem gut besuchten Restaurant einen Witz erzählte. Meine Freundin und Klassenkameradin Katja, deren Vater, ein Oberst, Zutritt zu einer exklusiven Bibliothek mit lauter seltenen Büchern über Literaturkritik hat, tut so, als habe die Stellung ihres Vaters mit ihren vorbildlichen Aufsätzen, die mit der Bestnote Fünf bewertet werden, nichts zu tun.
Am wenigsten von uns allen verstellt sich meine Schwester, die Schauspielerin. Vielleicht hat sie ganz einfach genug von der ewigen Verstellung auf der Bühne und
Weitere Kostenlose Bücher