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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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sagt daher ganz ehrlich, was sie denkt, jedenfalls zu Hause. »Diese Idioten vom |206| Kulturministerium setzen schon wieder ein Stück ab«, sagt sie mindestens einmal jährlich. »Es ist zu kontrovers. Zu viele Seitenhiebe gegen unsere lichte Zukunft.«
    In der Pause stürze ich nicht wie alle anderen zum Büfett. Ich wandle stumm durchs Foyer und denke nach. Meine Mutter geht wie eine Wächterin neben mir her. Sie sieht erschöpft aus, als hätte sie gerade einer Hinrichtung beigewohnt, und obwohl ich mir sehnlich wünsche, dass sie nach Hause geht, weiß ich, dass man den Anstandsregeln zufolge das Theater nie vor dem Ende einer Vorstellung verlässt. Ich denke über ›We Bombed in New Haven‹ und über Slawa nach. Ich finde es merkwürdig, dass gerade dieses Stück in Marinas Theater gelangt ist, dass ein amerikanischer Dramatiker es fertiggebracht hat, ein so typisch russisches Dilemma auf den Punkt zu bringen. Meine Mutter seufzt, als wir im Foyer an Slawas Porträt vorüberkommen: eine spitze Nase und ein durchdringender Blick, ein wenig wie das Porträt von Puschkin auf dem Umschlag unseres Literaturlehrbuchs in der Schule. Slawa, wiederhole ich in Gedanken, Slawa, Slawa, was für ein vollkommener Name für dich, denn
slawa
bedeutet »Ruhm«. Er starrt mit der Konzentration eines Sergeant Henderson von der Wand, mit Augen, die wie Lenkflugkörper direkt auf mein Herz zielen.
     
    Der Aufsatz, den ich schreibe, ist perfekt. Ich zitiere darin sogar Lenin: »Man kann nicht zugleich in einer Gesellschaft leben und frei von ihr sein.« Sei es in Amerika oder anderswo. Es sei gefährlich, ein Leben der Verstellung zu leben, schreibe ich. Wie Henderson und seine Schauspielerpiloten sehe man eines Tages im Textbuch nach und stelle fest, dass man daraus gestrichen worden sei. Wie meine Mutter könne man sein Porträt als junger Mensch ansehen und sich darin nicht wiedererkennen.
    |207| Ich staune über meine eigenen Sätze, die so philosophisch und schlüssig auf der Seite schillern, und stelle mir vor, wie Nina Sergejewnas Eichhörnchengesicht bei der Lektüre vor Ehrfurcht dahinschmilzt.
     
    Meine Schwester steht in der Küche und richtet eine Suppenkelle auf meine Mutter, die sich neben dem Mülleimer aufgebaut hat. Sie streiten darüber, wie viele Schnapsflaschen für Marinas Geburtstagsfeier gekauft werden sollen. Normalerweise rechnet man eine Halbliterflasche Wodka für zwei Gäste, weshalb Marina auf sechs Flaschen besteht, da sie zehn Leute eingeladen hat. Nein, protestiert meine Mutter, wir hätten auch noch zwei Flaschen ungarischen Wein namens
Ochsenblut
, demnach wären vier Flaschen genug. Höchstens fünf.
    »Es ist mein Geburtstag, deshalb bestimme ich«, keift Marina mit ihrer Bühnenstimme.
    Meine Mutter greift nach dem abgestoßenen emaillierten Rand des Waschbeckens und verteidigt ihr Revier. »Ist es das, was diese trunksüchtigen Schauspieler brauchen?«, keift sie zurück. »Kommen sie deswegen zu einer Geburtstagsfeier?«
    Ich weiß, bei diesem Streit geht es nicht nur um die Anzahl der Flaschen. Meine Mutter ärgert sich, weil zu den geladenen Gästen auch Slawa mit seinem Alkoholproblem gehört, das in ihren Augen dermaßen ansteckend ist, dass meine Schwester, sobald sie dieselbe Luft einatmet, bestimmt umgehend lallend zu Boden sinken wird.
    Bei der Aussicht, Slawa höchstpersönlich in unserer Wohnung zu sehen, verspüre ich ein kribbelndes Gefühl, als schäume mein Blut auf einmal wie Sekt.
    »Was Schauspieler brauchen, ist ein wenig Verständnis«, kreischt meine Schwester. »Eine Spur Einfühlungsvermögen. Es ist ein verdammter Beruf, und wir sind allesamt verdammt.«
    |208| »Warum?«, frage ich verblüfft und wundere mich, was »verdammt« und die Schauspielerei wohl miteinander gemein haben könnten.
    »Wir verbiegen unsere Seelen, um das Leben anderer zu leben«, sagt Marina. Sie lässt die Suppenkelle sinken und wendet sich mir zu. »Wusstest du, dass Schauspieler vor der Revolution nicht einmal auf christlichen Friedhöfen begraben werden durften?«
    »Wo wurden sie denn dann begraben?«, frage ich törichterweise.
    »Jenseits der Friedhofmauern«, sagt meine Schwester überdeutlich, als würde sie zu einem Publikum sprechen. »Fern von den guten, sündenfreien Seelen.«
    Ich habe keine Ahnung von christlichen Bräuchen und mir ist schleierhaft, wo meine Schwester dieses Wissen aufgeschnappt haben mag. Vielleicht lernt man ja so etwas in der Schauspielschule. Vielleicht

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