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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Novelle, in der Elena, die Heldin, ihr persönliches Glück über ihre familiären Pflichten stellt, indem sie einen mittellosen ausländischen Revolutionär |211| heiratet. Am Ende jedoch, als sie nach dem Tod ihres geliebten Mannes allein in der Türkei gestrandet ist, steht Elena ganz und gar unglücklich da und wird von ihren Pflichten schier erdrückt. Obwohl es keine gerechte Auflösung des Konflikts zu sein scheint, ist es, wie ich weiß, Katja nicht schwergefallen, ihn, wie unsere Lehrerin uns angewiesen hat, auf unser heutiges Leben zu übertragen.
    Ich sehe, wie Nina Sergejewnas Hand über meinem Heft schwebt, und rutsche in Erwartung eines Lobes unruhig auf meinem Stuhl hin und her.
    »Einige von euch«, hebt Nina Sergejewna unheilvoll an, »haben indessen lieber über ausländische Literatur geschrieben.« Sie nimmt meinen Aufsatz in die Hand und hält ihn mit zwei Fingern, als sei er ein Wurm. »Offenbar haben wir nicht genügend russische Klassiker.« Sie starrt mich mit ihren durchdringenden, glänzenden Knopfaugen an, und ich starre auf die von meinem unlöschbaren roten Stift verunstaltete Pultoberfläche. »Unsere Schriftsteller«, sie blickt auf zu den Porträts an der Wand, »haben für eine von euch nicht genügend Bände mit Poesie und Prosa verfasst, so dass diejenige das dringende Bedürfnis verspürte, sich einem ausländischen Stück zuzuwenden.« Sie blickt mich erneut an, damit auch jeder in der Klasse weiß, wer dieses Bedürfnis verspürte. »Ein amerikanisches Stück.
Amerikanski spektakl
.« Das Wort
amerikanski
schnarrt geradezu anklagend aus ihrem Mund.
    Während mich die gesamte Klasse anstarrt, würde ich am liebsten im Boden versinken. Nein, erst Nina Sergejewna ermorden und dann im Boden versinken. Ich wünschte, ich hätte dieses Vorhaben wirklich durchdacht, mir vor Augen geführt, wer es beurteilen würde, und hätte, wenn ich schon über ein Theaterstück schreiben musste, über Gorkis ›Nachtasyl‹ geschrieben, das ich im September gesehen habe. Ich wünschte, |212| die amerikanische Luftwaffe würde auf der Stelle todbringend vom Himmel herabstoßen und alle aus dem Raum fegen, damit ich mit Andrei allein sein und ihm alles von ›We Bombed in New Haven‹ und meiner neuen Liebe Slawa, dem glanzvollen Star, erzählen könnte.
    Inzwischen zeigt Nina Sergejewna mit dem Finger auf mich, wie die Lenin-Statue am Finnischen Bahnhof. »Das, was du geschrieben hast, ist verworren und unverständlich. Mehr noch, es beweist, wie ignorant und arrogant du bist. Seht her, wie eingebildet ich bin!« Nina Sergejewna schlägt mit den Armen, als versuchte sie, im nächsten Moment abzuheben, eine riesige Fledermaus mit gezackten Schneidezähnen. »Lies erst mal unsere eigenen Klassiker und dann, erst dann, blicke gen Westen. Unsere eigenen,
swoi «
, faucht Nina Sergejewna und versprüht Spucke über ihr Pult.
Swoi
, das Gegenteil von dem fremden
tschuschoi
, das weder unsere Aufmerksamkeit noch unsere Tinte verdient.
    Ich fühle mich ganz leer und krank. Ich fühle mich so, als hätte mich jemand aufgeschlitzt und mein Inneres nach außen gestülpt, so dass anstelle meiner an den Ellbogen glänzenden braunen Uniform nur ein blutiger Brei aus Blutgefäßen und Nerven um ein dunkles, verletztes Herz herum zu sehen ist.
    Ich wanke im gazeartigen Zwielicht des späten Novembers nach Hause. Ich knöpfe meinen Mantel auf und lehne mich in den Wind   – um mich von Nina Sergejewnas Worten zu reinigen.
    Müsste ich mich, wenn ich eine Turgenjew’sche Heldin wäre, nach dieser Demütigung in ein Kloster zurückziehen oder einen mittellosen ausländischen Revolutionär heiraten? Ich weiß es nicht. November ist die Zeit des Hochwassers, wenn der Wind die Ostsee in Aufruhr versetzt und die Kanäle überlaufen |213| lässt, so dass die Schulen schließen müssen. Der Wasserpegel befindet sich noch mindestens einen Meter unterhalb dem Straßenniveau, aber um diesen Tag noch dramatischer werden zu lassen, wünschte ich, der Kanal würde sich in die Straßen ergießen, damit ich mir, wild um mich schlagend, meinen Weg durch die Fluten bahnen müsste, um schließlich wie Jewgeni in Puschkins Poem ›Der eherne Reiter‹ von ihrer eisigen, tobenden Wucht bezwungen zu werden. Dann würde Nina Sergejewna, wenn sie von meinem vorzeitigen Tod erführe, sich grämen, die herausragende Qualität meines Aufsatzes nicht erkannt zu haben. Doch zu spät.
    Selbst wenn es wahr wäre, dass meine Kenntnis russischer

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