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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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sieht Marina ihre Arbeit ja doch nicht als so unkompliziert an wie den Beruf einer Verkäuferin oder eines Müllmanns. Es ist eine Tätigkeit, die Fantasie und Mut erfordert, wie ich sie nie aufbringen könnte. Als sie auf der weiterführenden Schule war, pflegte sie ihre Noten in dem Heft, das unsere Eltern am Ende jeder Woche auf Geheiß der Lehrer gegenzeichnen mussten, abzuändern. Mit einem Stift und einer Rasierklinge verwandelte sie samstagnachmittags befriedigende Dreien in sehr gute Fünfen, um dann sonntagabends, nachdem meine Mutter das Heft unterschrieben hatte, die Fünfen wieder in Dreien zurückzuverwandeln, damit den Lehrern nichts auffiel.
    Vielleicht begreift meine Schwester mehr, als ich ihr zutraue. Ich kann ihr sogar zugestehen, dass sie genauso vom Theater infiziert ist wie ich, oder doch beinahe. Aber warum ignoriert sie mich so ganz und gar, warum hält sie mich von der kleinen |209| Seitentür fern, die hinter die Bühne, ins Herz alles vorstellbaren Glücks führt? Könnte es sein, dass sie mich schützen möchte, da sie etwas in mir erkennt, oder ist es vielmehr das Nichtvorhandensein von etwas, das sich mir noch verschließt?
     
    Am Sonntag kochen wir für Marinas Geburtstag. Die Gäste sind für Montag eingeladen, dem freien Tag am Theater. Wir bereiten eine riesige Auflaufform mit Hering im Pelzmantel vor   – geriebene Kartoffeln, Karotten und Rote Beete, welche die Heringsstücke in farbigen, lockeren Schichten umgeben. Meine Mutter backt Blech um Blech
piroschki
und glasiert sie, wenn sie goldbraun glänzend aus dem Ofen kommen, mit drei Vogelfedern, die, von einem Gummiband zusammengehalten, in Ei getaucht werden. Marina begibt sich auf die Jagd in Fleischerläden und kehrt mit Schweinefleischstücken zurück, die sie zum Schmoren in den Ofen schiebt. Alles ist aus den Kochtöpfen in Kristallschalen umgefüllt und steht bereit.
    Am Montagmorgen watschelt Nina Sergejewna ins Klassenzimmer, am Arm ein Einkaufsnetz mit unseren Aufsätzen. Sie stellt das Netz auf ihrem Pult ab, als wäre es voller Steckrüben, womit sie ihrer Verachtung für unsere jammervollen Versuche, unsere Stimmen in das Heiligtum der Literatur und Künste einzubringen, Ausdruck verleiht.
    Ich blicke verstohlen zu Andrei, der quer durch das Klassenzimmer Katja anstarrt. In der Morgensonne schimmert sein Haar kupfern, und wenn er nicht Katja zugewandt wäre, dann würde ich den Flaum auf seinen Wangen erkennen können und jenen Glanz, den allein das Licht gegen zehn Uhr morgens seinem Gesicht verleiht. Während Nina Sergejewna unsere Aufsätze aus ihrem Netz fischt, kritzle ich mit einem Stift auf die hölzerne Oberfläche meines Pults.
Andrei
, schreibe ich, und darunter
Slawa
, in ordentlichen, großen, kalligrafischen |210| Buchstaben, als könnte diese bewusste Anstrengung den Namen irgendeine Bedeutung entlocken, etwas, das unter ihrer Oberfläche liegt, wo all die pionierfernen Sehnsüchte in ihren verwerflichen Höhlen lauern.
    Bevor sie sich den Resultaten des Wettbewerbs zuwendet, muss Nina Sergejewna, die keinen Moment ungenutzt verstreichen lässt, uns unbedingt noch etwas beibringen. Ihr Abschweifen lässt mich ganz unruhig werden, denn auf diesen Moment habe ich gelauert, seitdem ich meinen Aufsatz beendet habe, und kann es kaum erwarten, dass seine außerordentlichen Qualitäten in den höchsten Tönen gepriesen werden. Während ich die Minuten zähle, vergleicht sie Turgenjews ›Ein Adelsnest‹ mit dessen Erzählung »Mumu«, derentwegen ich in der fünften Klasse eine Nacht lang um den titelgebenden Hund geweint habe, den sein Besitzer auf Geheiß der herzlosen Gutsherrin ertränkte. Ich wünschte, Nina Sergejewna würde den Mund halten und einfach dastehen und lauschen oder irgendetwas anstarren, so wie Andrei Katja anstarrt, so wie ich Andrei anstarre.
    Als sie mit der Antriebslosigkeit und Willensschwäche der Aristokratie fertig ist, geht sie endlich unsere dünnen Hefte durch, zieht eins heraus und sieht Katja an. »Hervorragende Kritik der adligen Schichten«, sagt sie. »Du stellst zu Recht fest, dass Turgenjew insofern zuversichtlich in die Zukunft blickte, als er seinem Glauben an die neue Generation Ausdruck verliehen hat, die imstande sein werde, die tragischen Widersprüche seiner Zeit aufzulösen.« Ich weiß, dass dieser Gedanke aus einem Regal in der Militärbibliothek stammt, wo Katjas Vater darauf gestoßen ist. Sie hat über Turgenjews ›Am Vorabend‹ geschrieben, eine späte

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