Goodbye Leningrad
die ich für mich behalte, da sie zu persönlich sind, um darüber zu sprechen. Sie weiß zum Beispiel nicht, dass mir jedes Mal, wenn sie den Bühneneingang betritt, wo die Babuschka mit dem Bratapfelgesicht Wache hält, jedes Mal, wenn sie in einen dreiteiligen Spiegel starrt und ihr Gesicht schminkt, bis unter ihren Fingern eine ganz andere, faszinierende Person entsteht, vor lauter Neid das Blut in den Adern gerinnt. Sie weiß es nicht, und es ist ihr auch egal, da das Theater für sie bloß eine Arbeit ist, wie etwa das Austeilen der Milch mit einer Kelle für eine dickbäuchige Verkäuferin, wie das Schaufeln von Fischgräten und Knochen und Apfelkerngehäusen für den Müllmann im Keller unseres Wohnblocks. Wenn ich singen könnte wie sie, würde ich im Theater bleiben und nie mehr nach Hause kommen, wo nasse Wäsche an quer durch den Raum gespannten Leinen hängt und es überall nach Mottenkugeln und Suppe vom Vortag riecht. Ich würde meine Bühnenstimme, sofern ich eine hätte, nicht darauf verschwenden, mit meiner Mutter über eine Eislaufnote, die ein bulgarischer Schiedsrichter irgendeiner Eiskunstläuferin aus Finnland erteilt hat, zu diskutieren oder über die Frage, wen wir nicht zu Marinas bevorstehendem Geburtstag einladen sollen – Irina, die Theaterfriseuse, weil sie bloß Friseuse ist, oder den Schauspieler Slawa, weil er einen Hang zu
seljoni smei
hat.
|202| Die Diskussion um
seljoni smei
veranlasst meine Mutter, die Fäuste in ihre Hüften zu stemmen. Marina nimmt, stets kampfbereit, ihre Position vor dem Herd ein, schärft ihre Stimme und wirft meiner Mutter die Wörter wie Dolche ins Gesicht.
»Slawa ist unser bester Schauspieler«, schreit sie. »Er kann jede Rolle in jedem Stück spielen, selbst wenn der Leiter unserer örtlichen Parteizelle persönlich die Regie übernimmt.«
»Er ist in die Flasche verliebt«, sagt meine Mutter, »und hat zugelassen, dass
seljoni smei
, die grüne Schlange, sich um seinen Hals windet.« Sie knallt den Deckel auf den Suppentopf, um ihrem Kommentar Nachdruck zu verleihen, denn das ist genau das, was ihrer Prognose nach mit jedem passiert, der in den zerstörerischen Einfluss des Theaters gerät.
Ich weiß, dass meine Mutter sich nicht um Slawa solche Sorgen macht. Er ist
tschuschoi
, kein Familienmitglied, das heißt, dass er weder Mitgefühl noch Mitleid verdient. Das Gegenteil von
tschuschoi
ist
swoi
, und unsere
swoi
können wir an einer Hand abzählen – meine Großeltern, mein Onkel Wowa, der in der Kleinstadt Rjasan lebt, sowie meine Tante und die drei Cousins, die in der Provinz leben.
Die Person, um die meine Mutter sich wirklich Sorgen macht, ist meine Schwester. Sie macht sich Sorgen wegen ihrer Nähe zu all diesem Theaterchaos; sie macht sich Sorgen, dass die grüne Schlange am Ende auch Marina bezwingen wird. »Es gibt so viele normale Berufe«, sagt meine Mutter, wobei sie darauf achtet, dass ich in Hörweite bin. »Sieh dir doch nur Walja aus dem dritten Stock an – sie ist vor Kurzem der Bezirksbibliothek gleich um die Ecke zugewiesen worden. Sieh dir Irina Petrownas Tochter an. Deine ehemalige Klassenkameradin, und schon leitende Ingenieurin.« Das sind Berufe, die meine Mutter nachvollziehen kann; sie sind praktisch und sicher, im Gegensatz zu Tätigkeiten wie Theaterspielen oder Englischsprechen.
|203| Ich frage mich, ob meine Mutter wohl nach den Maßstäben des vergangenen Jahrhunderts zur
intelligenzija
gehören würde. Sie ist gebildet und hat Turgenjew und andere Klassiker gelesen. Sie hat sich Tschaikowskys ›Eugen Onegin‹ im Kirow-Theater angesehen und mich zu etlichen Vorstellungen von ›Dornröschen‹ und ›Schwanensee‹ mitgeschleppt. Dennoch kann man sich nur schwer vorstellen, dass eine von Puschkins oder Turgenjews Heldinnen wegen irgendeiner nicht gegessenen Brotscheibe herumnörgelt oder über Thunfischknappheit wettert. Diesen Frauen in Korsetts, den alten wie jungen, mit ihren blassen Fingern und kastanienbraunen Locken, schienen andere Dinge auf der Seele zu lasten, Dinge, die mehrseitige Diskussionen auslösten und häufig miteinander im Widerstreit lagen, Dinge wie Liebe und Ehre oder persönliches Glück und Pflicht. Sie seufzten häufig, drückten ihre Kinder an die Brust und spähten aus ihren in die Jahre gekommenen Einspännern, während hölzerne Kirchtürme und kleine Dörfer inmitten von Weizenfeldern an ihnen vorbeisegelten. Sie schienen genauso wenig über Salate und Pasteten
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