Goodbye Leningrad
Flasche
Ochsenblut
. »Nimm einen Schluck«, sagt er, »das wärmt dich.«
Ich halte die Flasche kopfüber über meinen Mund, doch in der Dunkelheit unterschätze ich, wie viel noch übrig ist, weshalb der Wein herausschwappt und sich über mein Gesicht ergießt. Jetzt habe ich Slawas Pullover ruiniert, und er wird denken, ich sei ein Dummkopf, der noch nie Alkohol probiert hat, was nur beweist, dass er mich lieber dort neben dem Abflussrohr |216| hätte stehen lassen sollen, wo ich nach meiner ersten Zigarette hustete. Ich halte die Flasche von mir weg und versuche, mit der Rückseite meiner anderen Hand den Wein von Gesicht und Hals zu wischen, während Slawa, beschwipst kichernd, mühsam aufzustehen versucht, um einen in der Ferne schimmernden Kanal deutlicher zu sehen. Meinem gestreiften Gesicht und seinem ruinierten Pullover schenkt er keinerlei Beachtung. Ihm ist es egal, dass wir meiner Mutter zufolge füreinander
tschuschoi
sind und er mich eigentlich nicht auf diese Kletterpartie hätte mitnehmen dürfen, nicht mit mir dieses verkleinerte Leben unter uns, diese Wogen aus Dächern hätte erleben dürfen, die sich vor uns wie eine durch die Unterströmung der schlafenden Stadt aufgewühlte Flut aufbäumen.
Mir ist ebenfalls nach Lachen zumute, denn dieser Blick vom nächtlichen Dach, von dessen Existenz ich nicht einmal etwas ahnte, ist so wirklich und gehört nur mir. Dieser Blick, das weiß ich plötzlich genau, stellt alles andere in den Schatten: die heutige öffentliche Demütigung im Literaturunterricht, die makellose Katja und ihre abstoßende Vollkommenheit, ja selbst meine Schwester und das Theater, das sie ganz für sich behält. Dieser Gedanke macht mich schwindelig und glücklich. Er füllt mich an wie der Wein und lässt mich immer trunkener werden. Nicht Katja, sondern ich stehe hier neben dem gottgleichen Slawa, ich, die ich ganz selbstsüchtig persönliches Glück der Pflicht und ein ausländisches Stück einem russischen Klassiker vorziehen würde, die es sich zweimal überlegen müsste, bevor sie sich wie die tugendhafte Heldin am Ende von ›Ein Adelsnest‹ in ein Kloster zurückziehen würde.
»Sieh mal«, sagt Slawa, der soeben den letzten Tropfen
Ochsenblut
getrunken hat, und zieht mich an sich, damit ich die graue Kuppel der schweigenden Synagoge sehen kann, die in der Ferne hinter den Dächern emporragt. Ich bin mir nicht |217| ganz sicher, ob er möchte, dass ich das Gebäude sehe, oder bloß eine Stütze braucht, um sich auf den Beinen zu halten, aber das ist mir egal. Ich lecke die letzten Tropfen Wein von meinen Lippen, schmiege mich in seine Arme und tue so, als befänden wir uns in der Liebesszene aus dem Roman, die ich mir so oft ausgemalt habe, die mit den blassen Fingern, feuchten Augen und zuckenden Schultern. Wieder bin ich Lisa; nur bin ich dieses Mal nicht so spröde und düster gestimmt. Dieses Mal kichere ich. Es gibt zwar keinen Obstgarten und keine Bank, doch Slawa ist selbst in seinem Zustand einer grünen Schlange ein erhabener Lawrezki, durchaus des klassischen Turgenjews würdig mit seinen traurigen Augen und seiner edlen weißen Haarfülle. In ein paar Stunden würde sich der Teer über uns in graue und dann rosa Streifen auflösen, aber wir blicken nicht hinauf. Während wir unser Gleichgewicht zu halten versuchen, umschlingen wir einander in einer unbeholfenen Umarmung, wie die beiden Figuren aus ›Ein Adelsnest‹, alle beide auf so unklassische Weise von jeglicher Pflicht befreit, in so schwindelerregender Höhe über den Baumwipfeln und Reihen dunkler Fenster, so trunken von
Ochsenblut
und persönlichem Glück.
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STADTRUNDFAHRT DURCH LENINGRAD
»Das Schicksal der Oktoberrevolution wurde auf den Straßen Petrograds entschieden. Hier formierten sich die ersten Regimenter der Roten Armee, um die neue Freiheit zu verteidigen und die alte Welt ein für alle mal zu bezwingen.«
Marja Michailowna hält inne und fordert uns auf, Anführungszeichen zu setzen. Jetzt werde sie eine Strophe von Majakowski diktieren, sagt sie, die wir ebenfalls als Zitat kennzeichnen sollen. Ich bin mir über die Bedeutung des englischen Wortes »vanquish« nicht ganz im Klaren, deshalb werfe ich einen Blick in Tanja Putschkowas Heft. Marja Michailowna rezitiert jedoch bereits:
Oktoberwinde in alter Weise
Wehten und blähten verwitterte Fahnen
Und über die Brücken liefen Geleise
Und wieder fuhren die Straßenbahnen
Doch anders lief ihr gewohnter Lauf –
Die
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