Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
Klassiker zu wünschen übrig lässt, möchte ich nicht länger über sie nachdenken. Lieber möchte ich an den heutigen Abend denken, und in mir regt sich die verheißungsvolle Aussicht auf die Geburtstagsfeier meiner Schwester und drängt zum Glück andere Gedanken in den Hintergrund.
     
    Ich stehe auf dem Treppenabsatz, ein Stockwerk über unserer Wohnung   – wo die Gäste weiterhin auf Marina anstoßen   – und würge an einer Zigarette, die ich aus der Handtasche meiner Schwester gestohlen habe. Ich habe auf der Toilette, unter dem rostigen Wasserbehälter mit Kette, in ihrer Handtasche gewühlt, nachdem mir klar geworden ist, dass Slawa mir wahrscheinlich noch weniger Beachtung schenken wird als Andrei, und ich beschlossen habe, dass ich, wenn ich schon nicht die Aufmerksamkeit der Männer, die mir gefallen, auf mich ziehen kann und mir mangelnde Achtung gegenüber den russischen Klassikern und dem Leben überhaupt vorgeworfen wird, genauso gut mit dem Rauchen anfangen kann.
    Ich höre, wie unsere Wohnungstür ächzend aufgeht, und stehe ganz still in der Dunkelheit, presse meinen Rücken gegen |214| die Wand und warte darauf, dass die betreffende Person wieder hineingeht. Doch als die Tür sich schließt, spüre ich, dass sie sich auf der falschen Seite befindet, nämlich auf meiner. Ich höre das Geraschel von Zellophan und wie ein Streichholz angerissen wird. Ich atme geräuschlos, versuche, ein Husten zu unterdrücken. Schritte sind auf der Treppe zu hören, nähern sich mir. Ihr Klang verrät mir zumindest, dass es nicht meine Mutter ist; es sind eilige, weniger bedachte, atemlose Schritte.
    Es ist Slawa, mit einer Zigarette zwischen den Zähnen und in der Hand eine offene Flasche
Ochsenblut
.
    Er wirkt alles andere als erstaunt, dass ich, an die Wand gepresst, versuche, eine Zigarette an einem Abflussrohr auszudrücken. »Komm«, sagt er und macht mit dem Arm eine Aufwärtsbewegung, als fordere er mich auf zu fliegen. Im Schein des Streichholzes ist eine weitere, kürzere Treppe zu erkennen, die zu der mit schwarzem Vinyl gepolsterten, niedrigen Tür zum Dachboden führt. »Hierher«, sagt Slawa, dessen Bewegungen in der Dunkelheit genauso präzise und gewichtig sind wie die meines Vaters, und reicht mir die Hand. »Komm.« Er riecht nach Zigaretten und nach unserer Wohnung, nach zu vielen Leuten und verbranntem Sonnenblumenöl.
    Ich folge ihm brav, Stufe um Stufe, zur schwarzen Tür. Was hier geschieht, ist so surreal, dass ich nur noch ein leeres Gefühl in meiner Brust und das Brennen des Zigarettenrauchs auf meiner Zunge verspüre. Er rüttelt an der Tür, die sich scharrend öffnet, wobei eine kleine Staubwolke aufsteigt, es riecht nach Schimmel und Mäusen. Er entzündet ein weiteres Streichholz, das aus der Dunkelheit einen Lichtstrahl und eine Wand aus pockennarbigem Beton sowie auf dem Boden etwas Grobkörniges wie Kies herausschneidet. Es ist ein unheimlicher Ort, von dem ich die ganze Zeit nicht ahnte, dass er direkt über meinem Kopf existiert, ein Ort, von dessen Existenz allein |215| Slawa etwas wusste, der in sämtliche Rätsel und Geheimnisse und Antworten auf Fragen, die wir nicht stellen mögen, eingeweiht ist.
    Wir schleichen langsam, ein Streichholz nach dem anderen entzündend, weiter, bis wir zu einer Holzleiter gelangen. Slawa steigt hinauf und rüttelt an einem Metallriegel, und über uns öffnet sich der von den Lichtern der Stadt ausgeblichene, schweigende, grenzenlose Nachthimmel. Er kriecht hinaus, nimmt meine Hand und zieht mich aufs Dach. Ich hocke mich auf das kalte Metall, ganz eingeschüchtert von der plötzlichen Unermesslichkeit, von der Kleinheit des Lebens darunter.
    Dort unten, im Teer der Novembernacht, kriecht ein Oberleitungsbus wie ein unbeholfenes Insekt an einem Zeitungskiosk mit verriegelten Fensterläden vorüber, dessen Nachrichten schon längst überholt sind. Zwei bernsteinfarbene Fensterquadrate leuchten in der schwarzen Fassade des Gebäudes auf der anderen Straßenseite und lassen eine spielzeuggroße Gestalt erkennen, die auf eine Straßenbahn wartet; ein offener Lastwagen, auf dessen Ladefläche dicht gedrängt kahl geschorene Soldaten stehen, rumpelt über die Gleise und ignoriert ratternd die rote Ampel.
    »Ist dir kalt, Mädchen?«, fragt Slawa, und da merke ich, dass mir dermaßen kalt ist, dass ich noch nicht einmal antworten kann, weil meine Zähne klappern. Er schlüpft aus seinem Pullover, zieht ihn mir über den Kopf und reicht mir die

Weitere Kostenlose Bücher