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Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
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Straße des Sozialismus hinauf.
    Dieses Gedicht von Majakowski, das wir alle auswendig können, klingt auf Englisch gespreizt und aufgeblasen, und ich kann mir nicht vorstellen, diese Verse mit ernster Miene einer Busladung von Oberschülern aus England vorzutragen.
    |219| Wir sitzen an einem langen, ovalen Tisch im
Haus der Freundschaft und des Friedens
am Fontanka-Ufer. Marja Michailowna, in einem kurzen, modischen Jackett und mit scharlachrotem Lippenstift, trägt aus einem dicken Heft, das sie in ihren gepflegten Händen hält, den Text einer historischen Stadtrundfahrt durch Leningrad vor. Wir sind etwa dreißig, sitzen still da und notieren jedes einzelne Wort, das aus ihrem Mund dringt, da wir uns dessen bewusst sind, wie glücklich wir uns schätzen können und wie privilegiert wir sind, überhaupt hier sein zu dürfen. Ein paar Monate zuvor hatten sämtliche Englischschulen Leningrads ihre besten Schüler dazu auserkoren, zu Fremdenführer für Gruppen englischsprachiger Oberschüler ausgebildet zu werden. Als die Direktorin Tanja Putschkowa und mich zu sich bestellte, um uns zu eröffnen, dass die Wahl auf uns gefallen sei, sprach sie von einer großen Ehre und Verantwortung. Es seien Schüler aus einer kapitalistischen Gesellschaft, sagte sie; wir würden diejenigen sein, die unsere Stadt vertreten und unsere überlegene Lebensart verkörpern.
    Obwohl es mir eher schwerfällt, mich als übergroße Verkörperung unserer Kultur zu sehen, nehme ich begeistert an diesem Programm teil, da es meine einzige Chance ist, mit jemandem englisch zu sprechen, der die Sprache nicht anhand eines Lehrbuchs gelernt hat.
    Bisher haben wir noch keine englischen Schüler gesehen. Die Vorlesungsphase ist noch nicht zu Ende, und wir kommen zweimal wöchentlich hierher, um jedes Wort festzuhalten, das Marja Michailowna über die Geschichte Leningrads und seine architektonischen Sehenswürdigkeiten diktiert. Wenn sämtliche zehn Vorlesungen notiert und auswendig gelernt sind, werden wir geprüft: Jeder von uns muss vorne in einem Bus vor der restlichen Gruppe stehen und einen von Marja Michailowna |220| willkürlich ausgewählten Teil der Stadtrundfahrt auswendig vortragen. Wer die Prüfung besteht, darf sich später als Fremdenführer betätigen; wer nicht, wird hinten in den Bussen bei den britischen Schülern sitzen und für Ordnung sorgen.
    Mir erscheint es in jeder Hinsicht erstrebenswerter, hinten im Bus zu sitzen als vorne zu stehen. Anstatt ein Mikrofon in den schwitzenden Händen zu halten und im Gedächtnis nach jedem noch so kleinen historischen Detail und jeder einzelnen englischen Grammatikregel zu kramen, könnte ich mir vom rückwärtigen Teil des Busses aus die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansehen, ja vielleicht sogar einen oder zwei Sätze mit jemandem wechseln, der besser Englisch spricht als Marja Michailowna mit ihren roten Fingernägeln.
    Ich werfe einen Blick auf die Marmorsäulen und vergoldeten Friese, auf die Schwünge des Kaminsims unter einem gewaltigen Spiegel in einem raffiniert gearbeiteten, verschnörkelten Bronzerahmen. Das
Haus der Freundschaft und des Friedens
ist im ehemaligen Schuwalow-Palast untergebracht, das heißt, dass das gesamte Gebäude mit seinen vier Stockwerken, den von sechs Meter hohen Zimmerdecken herabhängenden, kunstvoll gearbeiteten Kronleuchtern und vergoldeten Türgriffen vor der Revolution einer einzigen Familie gehört hat. Ich versuche mir vorzustellen, was eine einzige Familie wohl mit Platz für Hunderte Menschen angestellt und wie sie wohl diesen prächtigen Saal genutzt haben mochte, in dem der Tisch, an dem wir dreißig sitzen, auf dem glänzenden Parkett wie ein Staubkörnchen wirkt.
    Fast alle architektonischen Sehenswürdigkeiten, die Marja Michailowna uns bislang diktiert hat, tragen die Bezeichnung »ehemalig«. Das Museum für Leningrader Geschichte befindet sich in der ehemaligen Kathedrale des ehemaligen Smolni-Klosters, das Marinemuseum in der ehemaligen Börse und |221| das Zentrale Historische Archiv im ehemaligen Senatsgebäude. Die ehemalige Kasaner Kathedrale ist heute das Museum für Religion und Atheismus. Das ehemalige Mariinski-Opern- und Balletttheater heißt jetzt Kirow. Das Exekutivkomitee des Leningrader Stadtsowjets ist im ehemaligen Scheremetjew-Palast untergebracht, und der ehemalige Palast der Grafen Beloselski-Beloserski ist inzwischen Sitz eines Bezirkskomitees der Kommunistischen Partei.
    »Dem von den Petrograder Arbeitern, Bauern und

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