Gorgon (Horror Stories 1) (German Edition)
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Trotz der geöffneten Fenster war die Luft im Haus so stickig, dass ich es nicht mehr aushielt. Mitten in der Nacht trat ich vor die Haustür ins Freie. Die frische Luft tat gut und nahm mir den größten Teil meines Unbehagens. Nachdem ich ein paar Minuten lang die Sterne betrachtet hatte, fiel mein Blick nach unten, und mit einer reflexartigen Bewegung goss ich den Rest aus dem Wasserglas auf die Stelle, an der ich am Tag zuvor die Apfelkerne vergraben hatte.
Dann ging alles sehr schnell, und wenn ich geglaubt hatte, den gesamten Umfang dieser unglaublichen Geschichte schon zu kennen, dann hatte ich mich geirrt.
Es war die Nacht vom 29. auf den 30. August. Dass Shoemaker auf den Tag genau vor dreißig Jahren, am 30. August 1975 verschwunden war, erfuhr ich allerdings erst später bei meinen Nachforschungen in den Archiven des Chronicle. Nicht, dass es da noch eine Rolle gespielt hätte.
Im Letzten dieser Träume erfuhr ich, wohin Albert Shoemaker sich so klammheimlich verabschiedet hatte.
Der Traum führte mich natürlich wieder zum Feldweg.
Aber im Gegensatz zu den vorangegangenen Träumen, in denen die Mittagssonne hoch über mir gestanden hatte, ging die Sonne diesmal gerade erst auf. Jede meiner Zellen war in panischem Aufruhr, denn es brach soeben der Tag an, der mein Leben beenden sollte.
Vor mir stand eine Gestalt.
Es war Shoemaker . Er war einfach aufgetaucht und drehte mir den Rücken zu.
Was er tat? Warum er da war?
Ich weiß es nicht, ich kann nur vermuten. Möglicherweise hatte ihn die heiße, schwüle Nacht hierher verschlagen, so wie ich mit meinem Glas Wasser letzte Nacht ins Freie geflüchtet war. Vielleicht hatte er vor, sich seinen Besitz noch einmal im alten Zustand anzusehen, bevor die ersten Änderungen durchgeführt werden würden.
Bevor Ernie mit der Motorsäge erschien ...
Nun, vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich sah ihn nur dastehen, den Rücken mir zugewandt, die Hände in den Hosentaschen seiner tadellos gebügelten Jeans vergraben.
Die Panik, die mich erfasst hatte, wurde unerträglich. Es war einer der Träume, in denen man weglaufen möchte, aber bei allen Bemühungen keinen Zentimeter von der Stelle kommt. Als ob die Beine aus Blei wären.
Oder mit dem Erdboden verwurzelt.
Aber zum ersten Mal gelang es mir in einem dieser Träume, meinen Blickwinkel ein wenig zu verändern.
Was mich allerdings große Kraft kostete.
Wahrscheinlich hatte meine unglaubliche Angst diese Leistung ermöglicht, und auf einmal konnte ich nach unten sehen. Ich konnte die Erde sehen, mit der ich tatsächlich verwurzelt war, dunkle, steinige Erde.
Erde, auf die außer meinem eigenen auch der lange Schatten Shoemakers fiel, den die Morgenröte entstehen ließ. Unsere beiden Schatten begannen sich zu bewegen, was aber nicht etwa daran lag, dass Shoemaker sich bewegte. Nein, er stand weiterhin wie eine Statue und präsentierte mir seinen breiten Rücken.
Die Schatten bewegten sich, weil die Erde sich bewegte.
Und die Erde bewegte sich, weil schlanke Wurzeln langsam und geschmeidig an die Oberfläche krochen. Vollkommen lautlos bewegten sie sich durch das Erdreich und wuchsen in Shoemakers Richtung.
Als wäre er die Sonne, zu der sich alle Pflanzen hinbewegten.
Mit Schrecken und Faszination beobachtete ich diesen Vorgang. Ich war jetzt zwei Wesen. Ich war George Barton und ich war der Apfelbaum. Der von Todesangst gepeinigte Apfelbaum.
Als die ersten Wurzelspitzen Shoemaker fast erreicht hatten, drehte er sich unvermittelt um und sah mich aus kalten, bösartigen Augen an.
In dieser Sekunde berührte die erste Wurzel Shoemakers Haut unter dem weiten Hosenbein. Shoemaker drehte sich um und wollte gehen, doch es war zu spät.
Weitere Wurzeln hatten seine dicken Knöchel erreicht und hielten ihn fest. Offenbar wusste er zuerst gar nicht, was da an seinem Fuß hing, denn er hielt in der Bewegung inne und starrte ungläubig nach unten. Noch mehr Wurzelenden ringelten sich um seine Waden, und jetzt war es Shoemaker , bei dem das aufkommende Gefühl von Panik deutlich zu spüren war.
„Was soll das?“, hörte ich ihn schreien.
Solange er die Hände noch frei hatte, versuchte er mit wachsender Verzweiflung, die erdigen Wurzeln von sich zu reißen, doch schon bald waren auch seine Arme im Griff des Apfelbaums gefangen.
„Lass' mich los!“, schrie Shoemaker außer sich, doch ich/der Baum ließ ihn nicht los. Nie mehr, wie sich herausstellen sollte.
Die gleiche Kraft, die meine Wurzeln in das
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