Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
jeder andere Meister, denn die beschritten die Schattenpfade nur, wenn es unbedingt erforderlich war, um sich nicht Lebenskraft zu entziehen, die nur schwer zu ersetzen war. Es gehörte zu den Risiken der Schattenmeister, nach einer besonders anstrengenden Reise über die Schattenpfade plötzlich zum Greis geworden zu sein und dann nicht mehr über genügend Magie zu verfügen, um dies rückgängig zu machen und sich wieder zu erholen. Aber Aberian schien dieses Risiko nicht fürchten zu müssen. Oder die Arbeit an dem zerstörten und vermutlich noch nicht völlig wiederhergestellten Kunstwerk in der Kathedrale war ihm so wichtig, dass er die Gefahr in Kauf nahm.
Im nächsten Augenblick hatte sich Hochmeister Aberian vollständig verstofflicht.
»Ja, sieh dir ruhig an, was ich tue, schließlich willst du ja alle fünf Meisterschaften erreichen, auch die der Schattenpfadgängerei, die unter allen Meisterschaften als die schwierigste und gefahrvollste gilt.«
Gorian war ziemlich perplex. Im ersten Augenblick konnte er kein einziges Wort herausbringen.
»Das Risiko scheinst du ja nicht zu scheuen«, fuhr Hochmeister Aberian fort, »und unwägsame Risiken gibt es in der Magie aller fünf Häuser. Manche sind offensichtlich, so wie die Gefahren, denen die Schwertmeister im Kampf ausgesetzt sind. Andere betreffen nicht so sehr die Möglichkeit, dass der Körper verletzt wird, sondern dass Geist und Seele einen irreparablen Schaden nehmen.«
Gorian schluckte. Was war in den Hochmeister gefahren? Eigentlich hatte Gorian erwartet, dass er ihm eine Strafpredigt hielt und ihm anschließend erklärte, dass die Ausbildung des Schülers Gorian aus Twixlum – wie Meister Thondaril ihn offenbar in die Listen des Ordens eingetragen hatte – bereits ihr Ende gefunden hatte, noch ehe sie begonnen worden war. Stattdessen gingen die Worte des Hochmeisters in eine ganz andere Richtung.
»Es tut mir leid, was in der Kathedrale geschehen ist«, sagte Gorian. »Ich war unbedacht und unwissend.«
»Das waren wir alle zu gewissen Zeitpunkten unseres Lebens«, gab Aberian zurück. »Und genau die Momente, in denen wir uns am schwächsten zeigten, waren diejenigen, in denen wir am meisten innerlich gewachsen sind. Das wird bei dir nicht anders sein.«
»Heißt das … dass ich die Ausbildung fortsetzen darf?«, fragte Gorian.
Aberian lächelte mild. »Du hast doch noch gar nicht damit angefangen. Alles, was du bis jetzt weißt, ist ein Nichts gegenüber dem, was es noch zu erkennen gilt. Und glaub mir, dieser Zustand wird sich selbst dann nicht ändern, wenn du die Meisterschaft errungen hast – gleichgültig, in welchem Haus dies auch sein mag.«
In diesem Augenblick öffnete sich wieder die Tür der Kanzlei, und Meister Thondaril trat ein. Sein Blick glitt von Gorian zum Hochmeister, dann verneigte er sich kurz und sagte: »Wie ich sehe, werde ich bereits erwartet.«
»Du hast einen mächtigen und wortgewandten Fürsprecher, Gorian«, sagte Aberian und deutete mit einem Kopfnicken auf Thondaril. »Und wir haben lange über dich und dein Schicksal im Entscheidungskonvent beraten. Über dich und das Zeichen, unter dem du geboren wurdest, den fallenden Stern und die besondere Affinität, die du offenbar zum Sternenmetall hast, aber auch über deinen Vater, den wir nicht nur in einem freundlichen Licht sehen. Wie du verstehen wirst, hat all das bei unserer Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt.«
Aberians Blick ruhte, während er sprach, auf Gorian, und dieser fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Haut.
»Nun sagt ihm schon, wie die Entscheidung ausgefallen ist, werter Hochmeister«, sagte Thondaril schließlich. »Oder wollt Ihr bereits prüfen, wie viel Talent er für das Haus der Seher von Natur aus mitbringt, obwohl ihn sein Vater in dieser Kunst garantiert nicht unterwiesen hat?«
»Wir haben uns entschlossen, dir die Ausbildung in allen fünf Häusern zu gestatten, Gorian«, erklärte Aberian daraufhin. »Der Verborgene Gott allein weiß, ob die Hoffnungen, die wir in dich setzen, gerechtfertigt sind. Aber andererseits sind wir nicht blind gegenüber den Zeichen, und wenn eine Möglichkeit besteht, dass deine Schicksalslinie einst die von Morygor kreuzen und sie beenden kann – oder auch nur in einer für uns günstigen Weise beeinflusst -, wäre es fahrlässig von uns, dich abzuweisen.«
»Ich … ich danke Euch!«, stieß Gorian überwältigt hervor und konnte im ersten Moment sein Glück kaum fassen.
»Heilerin
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