Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
dessen brutale Intensität er jedoch schon gar nicht mehr spürte, weil sie von den Schmerzwellen überdeckt wurde, die von seiner Hand ausgingen. Frogyrr hatte offenbar neue Kraft gesammelt, der Blutfluss aus seiner leeren Augenhöhle war zum Erliegen gekommen. Ein leises, aber sehr tiefes Knurren drang zwischen den Zähnen seines kaum geöffneten Mauls hervor.
Gorian näherte sich ihm. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, aber da war etwas in ihm, das ihn ahnen ließ, was zu tun war. Er sammelte die Alte Kraft, versuchte so viel wie möglich davon zu konzentrieren. Seine Augen waren schwarz, und er spürte, wie der zuvor übermächtige Schmerz zurückgedrängt wurde. Seine Linke umfasste den Rächer, der ebenso wie er selbst von der flirrenden rotgoldenen Aura umgeben wurde, die immer stärker zu pulsieren begann. Die Kräfte, die Gorian in sich aufgenommen hatte, suchten einen Weg, um sich zu entladen und zu entfalten.
Gorian versuchte, die Handlungen seines Gegners zu erahnen, so wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Und so sah er den Angriff mit dem Elfenbeinstab voraus. Der achtbeinige Eisbär richtete das Ende mit dem Orxanier-Schädel gegen ihn und ließ schwarze Strahlen daraus hervorschießen. Aber sie verfehlten Gorian, brannten sich in die Erde, rissen dort einen Spalt in den Boden, der einen halben Schritt breit und fünf lang war.
Gorian war im letzten Moment zur Seite gewichen. Ob diese Strahlen ihm schaden konnten, solange ihn die rotgoldene Lichtaura umflorte, wusste er nicht. Er folgte einfach seinem Instinkt und einer inneren Stimme und hoffte, dass es seine eigene war und keine Einflüsterung.
Er schleuderte den Rächer, zielte dabei auf das zweite Auge des achtbeinigen Bärengottes. Doch diesmal schlug Frogyrr den Dolch zur Seite. »Einmal hast du mich auf diese Weise überraschen können, aber ein zweites Mal gelingt dir das nicht« , vernahm Gorian einen Gedanken, der so sehr in seinem Kopf dröhnte, dass er ein paar Augenblicke lang überhaupt nicht mehr wusste, wo er sich befand und wer er war; alles schien sich in einer Schmerzexplosion aufzulösen.
Der Frostgott näherte sich ihm. »Dies ist der Augenblick deiner Niederlage. Deine Gedanken sind schwächer als meine. Beinahe hättest du das Geflecht der Schicksalslinien derart durcheinandergebracht, dass dies ernsthafte Folgen gehabt hätte. Aber das alles wird jetzt nie geschehen, und an dich wird sich niemand erinnern …«
Die letzten Worte der Gedankenstimme waren kaum noch zu verstehen, denn sie gingen in ein höhnisches Gelächter über.
Gorian kam allmählich wieder zu sich. Er streckte die Hand aus, um den Rächer wieder zu sich zu rufen. Die Klinge steckte im Boden, der Dolch zitterte, dann löste er sich aus der Erde und flog hoch, befand sich aber nicht unter Gorians Kontrolle, denn seine Flugbahn wurde abgelenkt.
Frogyrr öffnete das Maul und stieß einen kalten, nebeligen Frosthauch hervor, der den Dolch vollkommen einhüllte und sich in einen Eisblock verwandelte; darin eingeschlossen fiel der Dolch zu Boden und war für Gorian nicht mehr zu erreichen.
»Eine dritte Klinge aus Sternenmetall! Die beiden anderen sind bereits auf dem Weg zu Morygor – und er wird sicher erfreut sein, dass er diesen Dolch auch noch erhält!« Zugleich erreichten Gorian Gedankenbilder, die eines der Schiffe zeigten, mit denen die orxanischen Frostkrieger in der Thisilischen Bucht gelandet waren. Sie ruderten über das Meer. Der Schlag einer dumpfen Trommel gab den Rhythmus vor.
In der Mitte des Schiffes befanden sich in einem mannshohen Eisblock die beiden Schwerter Sternenklinge und Schattenstich. Sternenklinge war noch dunkel verfärbt von dem getrockneten schwarzen Blut aus der Augenhöhle des achtbeinigen Bären. Und neben dem Eisblock befand sich – durchscheinend und beinahe schwebend – die Gestalt eines grazilen Caladran. Der Kopf war oval, die Wangenknochen hoch, das seidige blauschwarze Haar wurde durch ein breites, ledernes Stirnband zusammengehalten, das von einem Juwel auf seiner Stirn geschmückt wurde.
Der Caladran war noch sehr jung und kaum zum Mann gereift. Ein zynisches Lächeln spielte um seine dünnen Lippen. »Nichts geschieht, was nicht geschehen soll. Und wer weit genug voraussieht, erblickt die Zukunft, als wäre sie schon geschehen …« Während diese Gedanken Gorian erreichten, sprach die geisterhafte Erscheinung des Caladran in jener wohlklingenden Sprache, die Gorian einst auch im Hafen von
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