Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
herumkaute. »Auf Zufälle müssen jene bauen, die weder eine magische Begabung noch einen Blick für die Verknüpfungen der Schicksalslinien haben. Nein, ich habe dich gesucht.«
»Gesucht?«
»In diesem Jahr bist du alt genug, um dem Orden als Schüler beizutreten. Deine Begabung steht außer Frage. Schon die Zeichen, in denen du geboren bist, prädestinieren dich dafür, und abgesehen davon bist du Meister Nhorichs Sohn, dem Sohn von Meister Erian.«
»Mein Vater nannte sich nicht mehr Meister, seit ich ihn kannte«, entgegnete Gorian.
»Ja, ich weiß. Er hatte sich innerlich vom Orden entfernt.«
»Ich glaube, er sah das genau umgekehrt«, sagte Gorian. »Er meinte, der Orden hätte seine Ideale verraten und sei selbst so verderbt geworden wie diejenigen, die er bekämpft.«
Ein müdes, abgekämpftes Lächeln erschien auf Thondarils bis dahin wie aus Stein gemeißelten Zügen. »Ein hartes Urteil«, stellte er fest. »Und ich kann noch nicht einmal behaupten, dass er völlig unrecht hatte.«
»Nur seid Ihr dem Orden treu geblieben«, meinte Gorian. »Zumindest tragt Ihr Eure beiden Meisterringe.«
»Es gibt vieles, über das wir reden müssen, Gorian. Unter anderem auch dies. Dein Vater und ich lagen in der Beurteilung des Ordens gar nicht so weit auseinander, nur zogen wir unterschiedliche Konsequenzen daraus.«
»Und was sind Eure Konsequenzen?«, hakte Gorian nach.
Aber Thondaril wich der Frage zunächst aus. »Vor langer Zeit waren dein Vater und ich durch gemeinsame Erlebnisse im Kampf gegen Morygor und das Frostreich sehr miteinander verbunden. Er hatte mir das Leben gerettet, und bei allem, was uns in späteren Jahren getrennt haben mag, ist dieses innere Band zwischen uns nie zerrissen.«
»Der Zahlenmagier Olgarich hat mir erzählt, Ihr wärt vor meiner Geburt einmal auf dem Hof meines Vaters gewesen, um ihn zu besuchen.«
»Ja, dein Vater hatte sich da schon vor Jahren vom Orden abgewandt, während ich ihm trotz aller Zweifel treu geblieben bin. Ich war bei ihm, weil ich versuchen wollte, ihn zur Rückkehr in den Orden zu bewegen. Ich hatte mich für eine Aussprache zwischen ihm und dem Hochmeister eingesetzt, aber dein Vater beharrte auf seinem Standpunkt, demzufolge der Orden bis in den Kern verderbt wäre.«
Gorian blickte in das Gesicht des Meisters und studierte jede Regung, die dort zu erkennen war, und ihm wurde klar, dass Thondaril noch nicht mit allem herausgerückt war, was es dazu zu sagen gab. Da gab es noch etwas, was der zweifache Meister ihm bisher verschwieg.
»Und was war der Grund für Euren zweiten Besuch?«, fragte Gorian. »Es war einige Jahre später, ich erinnere mich noch sehr gut an Euch.«
»Ich war deinetwegen auf eurem Hof«, antwortete Thondaril.
»Damals habe ich es bedauert, von Euch nicht mehr über den Orden und all diese Dinge zu erfahren…«
»Dein Vater hätte es nicht geschätzt, hätte ich mich mit dir über den Orden unterhalten. Er hätte geglaubt, ich würde dich zu beeinflussen versuchen. Und das wahrlich nicht zu Unrecht, denn natürlich hatte der Orden längst ein Auge auf dich geworfen. Wir suchen ständig nach Talenten, und daher verfolgten wir die Entwicklung von Nhorichs Sohn sehr aufmerksam. Dein Vater hat mir allerdings klargemacht, dass sich der Orden von dir fernhalten sollte. Ich habe ihm damals geantwortet, dass der Tag kommen wird, da du alt genug bist, deine eigene Entscheidung zu fällen. Dann, so habe ich deinem Vater angekündigt, würde ich zurückkehren, um dir die Aufnahme als Ordensschüler anzubieten.«
»Und was hat mein Vater daraufhin geantwortet?«, verlangte Gorian zu wissen.
»Er hat es akzeptiert, aber ich will ehrlich sein: Der Gedanke, dass sein Sohn eines Tages dem Orden beitreten könnte, hat ihm nicht gefallen.«
Gorian atmete tief durch. »Ich will Euch gegenüber auch offen sein: Bis zu dem Tag, als die Frostkrieger in der Thisilischen Bucht auftauchten, war es mein größter Wunsch, Mitglied des Ordens und ein Schwertmeister zu werden, um Morygor von seinem frostigen Thron zu stürzen …«
»Und jetzt ist es das nicht mehr?«
»Der Tod meines Vaters und all das, was dann geschehen ist …« Gorian konnte zunächst nicht weitersprechen. Ein dicker Kloß steckte ihm auf einmal im Hals. »Es hat sich vieles verändert«, fuhr er dann mit belegter Stimme fort. »Eigentlich alles …«
Einige Augenblicke herrschte Schweigen, ehe Thondaril wieder das Wort ergriff. »Ich war bei eurem Hof und habe gesehen,
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