Gorian 2
vergräbt sich lieber in seinen Bibliothekshöhlen.«
Und Hauptmann Bram Segg ergänzte: »Ich schätze, in den letzten Jahren hat er nicht einmal das Tageslicht zu Gesicht bekommen.«
»Und so glaubt Ihr, dass es ihm auch nichts ausmacht, wenn die Sonne demnächst vollständig vom Schattenbringer verdeckt wird, meint Ihr das, Hauptmann?«, sagte Meister Thondaril mit galligem Unterton. »Dann richtet ihm aus, dass er sich falsche Vorstellungen macht. Der Felsenturm und diese Burg werden der Macht der Kälte kaum länger standhalten als ein gewöhnlicher Grashalm auf den Feldern von Garilanien. Und auch wenn die Gletscher in dieser Gegend schwächer sein sollten, weil es hier kaum Wasser gibt, das gefrieren kann, so werden die Leviathane kommen und alles niederwalzen. Wenn wir die Caladran nicht günstig stimmen, sodass sie ihre Magie in unsere Dienste stellen, werden wir alle sterben.«
Thondaril deutete in Richtung der Fenster. Inzwischen hatten die Diener ein paar mehr Leuchter entzündet, sodass auf dem Glas die Spiegelbilder der Versammelten zu sehen waren, aber die Fledermenschen, die über den Bergen kreisten, waren im hellen Mondlicht dennoch deutlich zu erkennen. »Wer weiß, vielleicht haben jene so unruhig durch die Nacht schwirrenden Geschöpfe schon längst erkannt, was
hier bevorsteht. Vielleicht sind sie deshalb auf der Flucht über die Berge, und sie schreckt nicht einmal die Trostlosigkeit der Aschewüste und das Licht des Tages!«
Thondaril verstummte, und tiefes Schweigen machte sich im Bankettsaal breit, sodass trotz der großen Entfernung das Rascheln der Tausenden von Fledermenschenflügel und die schrillen Rufe der unheimlichen Wesen zu hören waren. Es wirkte wie ein mahnender Chor, und Gorian konnte den Anwesenden durchaus ansehen, dass sie beeindruckt waren.
Nur für Oras Ban schien das nicht zu gelten. Seine Züge wirkten starr und kalt, als er wieder das Wort ergriff. »Obgleich Ihr bereits zweifacher Meister seid, scheint Euch die Ungeduld der Jugend nicht verlassen zu haben, werter Thondaril. Doch man sagt, in der Ruhe liege die Kraft. Will man das Richtige tun, muss man sich die Zeit nehmen, seine Entscheidungen zu bedenken, und darf sich nicht wie Ihr von der Furcht treiben lassen.«
»Es ist nicht die Furcht, die mich treibt, sondern die Sorge«, widersprach der Ordensmeister in deutlich verhaltenem Tonfall, denn er hatte begriffen, dass er den Königlichen Verwalter durch ungestüme Forderungen nicht auf seine Seite ziehen konnte. »Hierher wird sich kein Flüchtling verirren, weil zwischen Felsenburg und der mitulischen Grenze die verbrannte Einöde liegt. Aber Petaa quillt bereits vor Menschen über, dass die Stadtmauern zu bersten drohen, und unzählige Flüchtlinge verstopfen die Straßen und Wege in den südlichen Herzogtümern des Heiligen Reichs.« Er ließ in der Sphäre ein paar Bilder davon erscheinen, die ihm von anderen des Handlichtlesens mächtigen Ordensmeistern gesandt worden waren.
Doch während alle anderen im Raum gebannt darauf
starrten, warf Oras Ban nicht einmal einen Blick dorthin, sondern sagte unbeeindruckt von dem geballten menschlichen Leid, das Thondaril der Versammlung vorführte: »Unsere Abgeschiedenheit ist in diesem Fall unser Privileg.«
Thondaril ließ die Lichtsphäre verschwinden, wobei seine Augen für einen Moment ganz schwarz wurden. Für Gorian ein Zeichen, dass er sich sehr angestrengt hatte und sich nun durch Magie wieder Kräfte zuführte.
Doch es war sicherlich nicht das Erzeugen und Aufrechterhalten der Sphäre, das ihn so mitgenommen hatte, sondern die Erkenntnis, wie wenig sein Gegenüber das weitere Schicksal ganz Ost-Erdenrunds kümmerte.
Der Verwalter Felsenburgs hatte für seine Gäste ein wahres Festmahl auftischen lassen, doch der Appetit war Thondaril gründlich vergangen. Gorian aber fiel auf, dass auch Oras Ban keinen einzigen Bissen zu sich nahm. Besteck und Geschirr, die an seinem Platz standen, blieben bis zum Schluss unberührt.
Schließlich brachte einer der Diener ein Glas mit einer bläulich schimmernden Flüssigkeit, das Oras Ban in einem Zug leerte.
»Ein interessantes Getränk, dass Ihr da zu Euch nehmt«, äußerte Gorian, woraufhin ihm der Verwalter einen unangenehm durchdringenden Blick zuwarf. In seiner Ausbildung zum Heilmeister des Ordens stand Gorian zwar noch am Anfang, aber er hatte bereits genug gelernt, um zu erkennen, dass dieses Gebräu über ganz besondere Eigenschaften verfügte, die in
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