Gorian 2
Magische Spuren, die Gorian niemandem hätte beschreiben können, die er aber so deutlich erkannte wie ein Raubtier die Witterung seiner Beute.
Er musste auf jede Kleinigkeit in der Umgebung achten.
Sie hatten ein Felsplateau erreicht, von dem aus man bei Tag sicherlich eine gute Aussicht über das umliegende Land hatte. In der Nacht aber waren ringsum nur Schatten auszumachen und Lichtreflexe, hervorgerufen vom Mond- und Sternenlicht, das von besonderen Gesteinsarten gespiegelt wurde.
Gorian blieb stehen, schloss die Augen und versuchte die Bilder erneut in sich wachzurufen, die er mit den Gedanken Ar-Dons empfangen hatte.
Und auf einmal spürte er wieder etwas, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Da war eine Empfindung von Schmerz, Schwäche und unendlicher Furcht.
Er öffnete die Augen und blickte auf den vom Mondlicht beschienenen felsigen Boden zu seinen Füßen. Feine Sprünge
im Gestein bildeten eine Struktur, die an einen sich verzweigenden, durch das Land mäandernden Fluss oder einen Blitz erinnerten.
Auf einmal wusste Gorian, dass auch Ar-Don diesen Riss im Stein gesehen hatte, und zwar vor nicht allzu langer Zeit.
»Er war hier«, murmelte er. »Genau hier …«
Torbas enthielt sich eines Kommentars, und Fentos Roon flüsterte gerade seiner Seilschlange ein paar beruhigende Zischlaute zu, und zwar in eine Vertiefung ungefähr eine Armspanne vom Seilschlangenende entfernt. Offenbar befand sich dort das, was man bei einem anderen Geschöpf als Ohr bezeichnet hätte.
Gorian sah einen Schatten auf der anderen Seite der abgrundtiefen Schlucht, die das Felsplateau begrenzte. Es handelte sich um eine gezackte Felsformation.
Er trat an den Rand des Felsplateaus und blickte in die undurchdringliche Schwärze des Abgrunds. »Genau hier muss er sein«, behauptete er und leuchtete mit dem magischen Handlicht hinab. Aber der Schein verlor sich in der Finsternis.
Ein paar unterarmlange pelzige und sechsfüßige Kreaturen mit peitschenartigen Schwänzen krabbelten über die senkrecht in die Tiefe führenden Felswände, so als würden sie sich über eine waagerechte Fläche bewegen. Wenn Gorians Handlicht sie traf, huschten sie davon und verbargen sich in kleinen Spalten und Ritzen, wobei sie ein lautes Fiepen ausstießen.
»Sieht nicht gerade einladend aus«, meinte Torbas. »Sag bloß, dein Gargoyle-Freund steckt in diesem Dreckloch fest.«
»Er ist dort, das weiß ich«, gab Gorian sehr ernst zurück. Und dann empfing er ganz kurz einen Gedanken, der aus einem einzigen Bild bestand: Es war wieder ein Blick aus
der Tiefe einer Schlucht hoch in den nächtlichen Sternenhimmel.
Aber diesmal war der Umriss einer Gestalt zu sehen, die am Felsrand stand und hinabsah. Eine Gestalt, deren rechte Hand ein blendendes Licht ausstrahlte.
Gorian sah niemand anderen als sich selbst.
In diesem Moment raste ein Speer von der gegenüberliegenden Seite der Schlucht direkt auf Gorian zu. Diesmal warnte ihn keine Vorahnung, er hatte sich zu sehr auf Ar-Dons Gedanken konzentriert, und so konnte er nicht mehr rechtzeitig reagieren.
Doch Torbas riss ihn gerade noch rechtzeitig zurück, und der Speer, mit magisch verstärkter Kraft geschleudert, sauste haarscharf an Gorian vorbei.
Doch der Speer änderte abrupt seine Bahn, jedem Naturgesetz Hohn sprechend – und fuhr Fentos Roon mitten in die Brust!
Die Obsidian-Spitze durchbohrte Fentos Roons Leib und trat im Rücken wieder aus. Ein keuchender Laut drang noch über die Lippen des Zweiten Greifenreiters, dann sackte er zu Boden.
Weitere Speere wurden von der gegenüberliegenden Seite der Schlucht herübergeschleudert. Dutzende von Fledermenschen-Kriegern waren dort herangeschlichen und sahen nun den Augenblick für einen Angriff für gekommen.
Während die beiden Ordensschüler darum bemüht waren, die magisch verstärkten Speerwürfe mit Sternenklinge und Schattenstich abzuwehren, kroch auf einmal ein Heer der lichtscheuen Sechsfußratten aus der Schlucht. Wie ein Teppich aus grauem Fell schoben sie sich über den Rand der Erdspalte, zunächst Hunderte, dann Tausende, die dicht
gedrängt aus der Tiefe krabbelten und die Nachtluft mit ihrem schrillen Pfeifen erfüllten.
Schon hatten die ersten den Körper des toten Fentos Roon erreicht, und bald war sein Leichnam über und über von grauen Pelzen bedeckt. Manche der Tiere liefen auch Gorian und Torbas zwischen den Füßen umher. Quietschend wichen sie aus, wenn nach ihnen getreten wurde. Aber sie griffen die
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