Gorian 2
Kopf. »Glaubt mir, ich hatte keine Wahl. Im Übrigen habe ich einmal für mein Mitleid über Gebühr bezahlt, denn es machte mich zum Verdammten und Ausgestoßenen.«
Der Maskierte, der an der Seite des Renegaten stand, murmelte etwas, doch die Sprache, die er benutzte, war so fremdartig, dass nicht einmal die Sprechsteine der Basilisken sie zu übersetzen vermochten. Gorian aber nahm zugleich einen sehr starken Gedanken wahr, und es war das erste Mal, dass er bei dem Maskierten, der sich bisher vollkommen abgeschirmt hatte, überhaupt eine geistige Kraft registrierte. Seine wenigen unverständlichen Worte und dieser Gedanke waren wohl eine Art Kommentar zu dem, was der Namenlose gerade geäußert hatte. Doch ob zumindest der den Maskierten verstanden hatte, blieb ein Geheimnis. Der Renegat blickte zwar auf, doch sein unbeweglich wirkendes Caladran-Gesicht zeigte keinerlei Regung.
Danach herrschte eine Weile Schweigen. Es war Torbas, der es schließlich brach. »Schade um all die magischen Schriften in den Gewölben von Felsenburg. Das darin enthaltene Wissen hätte uns im Kampf gegen Morygor sicher genutzt.«
»Es hätte nur dazu geführt, dass ihr euch selbst in Gefahr bringt«, gab sich der Namenlose Renegat überzeugt. »Menschen sind so ungeschickt in der Anwendung von Magie wie einfältige Kinder, die mit Feuer spielen.«
»Ich hoffe, dass man mir Gelegenheit geben wird, die Magie der Caladran zu erlernen, wenn wir ihre Inseln erreicht haben«, sagte Gorian, der sich von der Äußerung des Namenlosen wenig beeindruckt gab.
Der nickte sogar. »Ja, du bist eine Ausnahme unter den Menschen. Zwar reicht das kurze Aufflackern deines Seelenlichts, das für dich ein ganzes Leben darstellt, kaum aus, um die Künste der Caladran auch nur ansatzweise erfassen zu können, doch du hast dennoch eine beachtenswerte Kraft in dir. Und wer weiß. Das Netz der Schicksalswege wird im Augenblick anscheinend neu geknüpft, Wahrscheinlichkeiten und Gewichte verändern sich. Wir werden sehen, wohin uns das führt.«
»Morygor allerdings scheint die Zukunft und ihre Möglichkeiten sehr deutlich zu sehen«, gab Gorian zu Bedenken.
»Ich bin ein Ausgestoßener, weil ich zu viel Mitleid zeigte. Mit Kreaturen, die es nach Meinung vieler meines Volkes nicht wert sind, dass man ihnen eine derartige Gefühlsregung entgegenbringt. Morygor hingegen ist aus dem gegenteiligen Grund ein Verdammter. Er kennt kein Mitleid. Im Gegenteil, er ergötzt sich am Leid anderer. In der Macht, andere leiden lassen und ihnen Schmerzen zufügen zu können, erweist sich seiner Meinung nach die Macht an sich.«
»War das der Grund, warum man ihn verstoßen hat?«, fragte Gorian, denn er wollte so viel wie möglich über seinen Feind erfahren, und das, was man in den Ländern der Menschen über diesen, wie Gorian glaubte, entscheidenden Punkt wusste, war mehr als bruchstückhaft. »Man sagt, er hätte verbotene Künste angewendet. Ihr aber sprecht von mangelndem Mitleid.«
»Ich habe nur laut gedacht«, behauptete der Namenlose Renegat. »Eine Angewohnheit, die das einsame Leben in
der Abgeschiedenheit eines Bibliotheksgewölbes mit sich bringt. Wenn sich die Jahre in ihrer Gleichtönigkeit aneinanderreihen und diejenigen, mit denen man sein Schicksal teilt, zur Schweigsamkeit neigen, missbraucht man schließlich die Illusionsmagie, um sich neue Gesprächspartner zu erschaffen.«
Der Namenlose Renegat warf, während er dies sagte, einen kurzen Seitenblick auf den Maskierten, der allerdings in keiner Weise zu erkennen gab, ob er diese Worte überhaupt zur Kenntnis genommen hatte.
»Erzählt mir mehr über Morygor«, forderte Gorian, der das Gefühl hatte, dass sein Gegenüber mit seinen Ausschweifungen nur ablenken wollte. Aus irgendeinem Grund scheute er vor dem Thema zurück, das Gorian zur Sprache gebracht hatte.
Der Renegat sah ihn wieder an, und zwischen seinen schräg stehenden Caladran-Augen bildete sich eine tiefe Furche. »Möchtest du wissen, was in jedem zukünftigen Augenblick deines Lebens geschieht? Möchtest du alles vorhersehen können, was sich ereignet? Wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeiten sind und welchen Weg durch das Gewirr der verschiedenen Zukunftspfade du vermutlich gehen wirst?«
»Was spräche dagegen? Dann wäre ich Morygor ebenbürtig und könnte ebenso wie er im Hier und Jetzt Entscheidungen treffen, die sich in weiter Zukunft günstig für mich auswirken. Ich könnte Dinge zu einem Zeitpunkt in Bewegung setzen, da
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