Gorian 3
war als alles, was der Orden in dieser Hinsicht je erschaffen hatte.
»Beliak würde hier überall magisches Leuchten sehen«, sagte Gorian. »Die Adhe haben anscheinend die Fähigkeit, solche Magie zu erkennen.«
»Vermutlich wäre er geblendet, stünde er hier, und könnte gar nichts mehr sehen«, meinte Meister Shabran. »Doch die Kräfte, die hier wirken, kann man auch auf andere Weise erkennen, dazu bedarf es nicht eines guten Auges.«
»Ich weiß.«
»Manchmal ist es sogar von Vorteil, einen Sinn vollkommen auszuschalten.«
Gorian kniete nieder und berührte mit der Hand den steinigen Boden. Nadelfeine Lichtstrahlen schossen aus dem Gestein und drangen in seine Handfläche, die sie förmlich aufsog. Die Aura der alten Al-Pan-Stadt, erkannte Gorian, und vor seinem inneren Auge sah er eine Stadt mit vieltürmigen, verschnörkelten Bauten, zwischen denen unzählige schmetterlingsartige Wesen umherschwirrten. Deren sehr schlanke Körper hatten die Größe zehnjähriger Menschenkinder, die großen, bunten und nur hauchdünnen Flügel jedoch ein Vielfaches davon. Ihre Stimmen waren hell und klar und verwandelten sich zu einem Chor dumpfer, tiefer und wie gedehnt klingender Schreie.
Dann sah Gorian den fallenden Stern, der die Stadt und ihre Bewohner vernichtete. Innerhalb eines Wimpernschlags verbrannten die Al-Pan in dem schrecklichen Inferno. Ein Feuer, so hell wie die Sonne, umhüllte den Berg und gab ihm eine völlig andere Gestalt. Wolken von giftigen Gasen breiteten sich aus und töteten alles Leben im weiten Umkreis.
Selbst dieser Fetzen einer geisterhaften Erinnerung war noch intensiv genug, um Gorian für einen Augenblick schier den Atem zu nehmen.
Er erhob sich.
»Sei vorsichtig«, warnte Meister Shabran. »Die Kräfte, die hier wirken, sind noch immer sehr mächtig, und an diesem Ort ist auf unsere Magie nur bedingt Verlass. Also bring hier nichts aus dem Gleichgewicht.«
»Ich glaube kaum, dass das so leicht möglich wäre«, sagte Gorian. »Aber es geschieht etwas. Die Geister der Al-Pan wurden in Unruhe versetzt.« Er fragte sich, ob das daran lag, dass sich die Al-Pan vor Magie jedweder Art gefürchtet hatten und die Zauberkunst der Magiemeister, die aus diesem
Gebirge einen großen Bannstein gemacht hatten, die Geister dieser längst toten Wesen geweckt hatte.
Aber da war noch etwas anderes. Etwas sehr Mächtiges, das sich diesem Ort näherte. Gorians magische Sinne waren schwächer als gewöhnlich, dennoch spürte er, dass diese Macht nicht mehr weit entfernt war.
Auch Shabran spürte sie. »Was hältst du von einem Schattenpfadgang in noch größere Höhe?«
»Nichts dagegen.«
»Vielleicht ein Ort mit guter Fernsicht?«
»Einverstanden.«
Als Shabran den Kopf wandte, bemerkte Gorian etwas Schwarzes am Ohr des Schattenmeisters.
Es war Blut. Schwarzes Blut.
»Was ist mit deinem Ohr geschehen?«, fragte er, bevor sich der Schattenmeister in Rauch auflösen konnte.
Er sah Gorian mit pechschwarzen, von Finsternis erfüllten Augen an. »Ich bin sehr weit ins Frostreich vorgedrungen«, bekannte er. »Immer wieder habe ich Vorstöße in jene Bereiche gewagt, in denen Morygors Aura bereits sehr stark war.« Er lächelte matt. »Manchmal war es hart an der Grenze dessen, was ich auszuhalten vermochte.«
»Und manchmal auch darüber hinaus?«
Shabrans Lächeln wirkte matt. »Ich habe gehört, du hast bei deinem Kampf am Speerstein von Orxanor ebenfalls eine Verwundung davongetragen, aus der hin und wieder schwarzes Blut tritt?«
Gorian griff sich unwillkürlich an die Schulter. »Ja«, murmelte er.
»Genau wie du habe ich mich daran gewöhnt, Gorian. Zumindest soweit es möglich ist. Denn eins wissen wir beide: Diese Art von Wunden heilen nicht.«
Augenblicke später verstofflichten sie auf der flachen Oberseite einer der Felsensäulen am Nordrand des Gipfelplateaus. Es gab vermutlich keinen Ort in ganz Ost-Erdenrund, von dem aus man einen weiteren Blick hatte – trotz der ewigen Dämmerung, die über dem Land lag, seit der Schattenbringer die Sonne verfinsterte.
Das Eis hatte bereits die ersten Ausläufer des Nord-Eldosischen Gebirges unter sich begraben und reichte bis an die hoch aufragenden Steilwände. Weiter schien es auch in der Ebene nicht vordringen zu können. Dort, wo offenbar die Bannlinie verlief, hatte sich ein See aus Schmelzwasser gebildet, der sich inzwischen durch das Land mäandernde Abflüsse suchte, die schließlich einen der Nebenflüsse des Ba finden würden.
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