Gorian 3
dahinziehendes Volk zu warten. Er wickelte sich seinen grauweißen Umhang dichter um die Schultern seines Bronzeskeletts. Die glühenden Augen seines ovalen Metallkopfs leuchteten nicht mehr
rot, sondern weiß und verströmten ein Licht, das so gleißend war wie schon lange kein Sonnenaufgang mehr. Gorian und Shabran schützten ihre Augen mit den Händen, während von dem Bärenreiter-Fürsten und seinem Riesenreitbären im nächsten Moment nur noch ein weißer Blitz zu sehen war und dann nichts mehr.
Thragnyr war verschwunden, während der lange Zug der Bärenreiter vom Weltentor bis zum Nordpass des Kraters kein Ende mehr nehmen wollte.
»Das muss Meister Thondaril erfahren!«, entfuhr es Gorian. »Offenbar weiß Morygor über die Waffe der Basilisken Bescheid und hat daher Thragnyr mit seinen Bronzekriegern herbeigerufen. Das ist eine völlig neue Streitmacht.«
»Sollen wir nicht erst noch einen Schritt weitergehen?«, fragte Meister Shabran.
»Du meinst … zur Frostfeste!«
Shabran nickte. »Meister Thondaril wird uns gewiss nicht erlauben, dort die Lage auszukundschaften. Außerdem nehme ich an, dass dieser magere Riese zu seinem Herrn und Meister pilgert, um Morygor seinen Gehorsam zu versichern. Ich würde jedenfalls darauf wetten, dass wir Thragnyr dort wiedersehen, und es wäre ganz interessant zu erfahren, was er als Nächstes tut, findest du nicht auch?«
Gorian überlegte kurz. Der Gedanke, sich ins Zentrum des Bösen zu begeben, bescherte ihm einen Schauder. Erinnerungen kamen in ihm auf. Aber es waren nicht seine eigenen, denn er selbst war nie in der Frostfeste gewesen. Es waren Erinnerungen, die Ar-Don in seinen Geist eingepflanzt hatte. Er sah eisige Mauern und hörte die unmenschlich verzerrten Schreie von Meister Domrich, der in den Gewölben der Festung gequält und dessen Seele mit der des Gargoyles verschmolzen worden war.
»Was ist? Traust du dich nicht?«, fragte Shabran.
»Wir waren beide noch nicht dort.«
»Macht das einen Unterschied? Wir sind stark genug – und falls einer von uns es nicht sein sollte, kann der andere ihn mit sich in die Schattenpfade reißen, sodass wir trotzdem entkommen. Wissen ist Macht, Gorian, darauf läuft es immer wieder hinaus. Und Wissen über den Feind ist die stärkste Waffe, die man besitzen kann.«
»Also gut. Aber wir werden einen ausreichenden Abstand wahren. Ich habe keine Lust, Morygor in die Falle zu gehen.«
»Natürlich.«
Sie lösten sich in Rauch auf. Morygors Aura hatte Gorian bis dahin zwar als bedrückend, aber insgesamt als relativ erträglich empfunden.
Doch als sie im Angesicht der Frostfeste verstofflichten, war sie mit einem Mal so stark, dass es Gorian vorkam, als hätte er einen Schlag gegen den Kopf erhalten. Für Augenblicke drehte sich alles vor seinen Augen. Er wollte schon zurück in die Schattenpfade springen, spürte aber sofort, dass das nicht möglich war. Eine innere Lähmung hatte ihn erfasst, die jeden Gedanken verlangsamte. Du Narr. Es war zu früh … Du hättest es wissen müssen, es ist dir oft genug gesagt worden ...
Die Frostfeste lag ein paar Meilen landeinwärts der ehemaligen Küstenlinie auf einem Felsen, dessen achteckige Form ihn wie einen behauenen Stein von wahrhaft riesenhaften Ausmaßen wirken ließ. Eis tränte an seinen steilen Wänden herab, sodass man aus der Ferne den Eindruck haben konnte, dass die gesamte Festung nicht auf dem Felsen, sondern auf tropfsteinähnlichen Eisformationen ruhte. Die Festung selbst bestand nur aus magisch verstärktem Eis. Hohe
Mauern und zahllose Türme reckten sich schimmernd in den dunklen Himmel. Und wenn man etwas länger den Blick auf diesem Bauwerk ruhen ließ, bemerkte man, dass es ständig seine Form veränderte. Türme wuchsen ein Stück empor, andere schrumpften, und kuppelartige Dächer wölbten sich hinter den Wehrgängen und Zinnen der schroffen Außenmauern.
Gorian brauchte einen Moment, um sich innerlich zu erholen. Seine Augen wurden schwarz, und er versuchte so viel wie möglich der Alten Kraft in sich zu sammeln. Umso mehr wurde ihm seine Schwäche bewusst. An einen Sprung in die Schattenpfade war im Moment nicht zu denken. Er wäre mit Sicherheit in irgendeiner einsamen Zwischenwelt gestrandet, aus der es kein Entkommen mehr gegeben hätte.
Von der riesenhaften Gestalt des Bärenreiter-Fürsten war nirgends etwas zu sehen. Möglicherweise hatte Morygor darauf verzichtet, ihn wie erwartet zur Huldigung zu sich zu bestellen, sondern ihn
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