Gorian 3
Verfinsterung der Sonne vorantrieb, schien mehr und mehr zuzunehmen und damit auch die Aura Morygors, die bereits in diesem noch relativ frühen Stadium für manche einfach zu stark war. So berichteten Botenreiter aus Oque, es habe dort mehrere Fälle von Wahnsinn gegeben, bei denen zuvor unverdächtige Bewohner plötzlich mit dem Schwert oder einem Werkzeug als Waffe durch die Straßen der Stadt gelaufen waren und mit dem verzerrten Schlachtruf »Morygor!« auf den Lippen wahllos jeden zu töten versucht hatten, der ihnen in die Quere kam.
König Abrandir und seine Gemahlin Orawéen ließen Meister Gorian und Hochmeister Thondaril zu sich rufen und empfingen sie in einem ihrer Gemächer an Bord der Hoffnung des Himmels . Dieses Gemach hatte eine erstaunlich weite Ausdehnung, und auch wenn die Hoffnung des Himmels ein sehr großes Schiff war, so hätte ein derart weitflächiger Raum darin keinen Platz finden dürfen, zumal wenn man
bedachte, was sich sonst noch alles an Kriegern, Waffen, Vorräten und mehr an Bord befand. Es war Magie, die diesen Raum so groß erscheinen ließ oder ihn tatsächlich so groß machte, erkannte Gorian. Doch selbst ihm, einem Magiemeister, der außerdem vieles vom magischen Wissen der Caladran in sich aufgenommen hatte, als er das Reich des Geistes aufgesucht hatte, war es unmöglich zu unterscheiden, was Illusion war und was nicht.
»Unsere Pläne nähern sich einer entscheidenden Phase«, sagte König Abrandir.
»Meinem Gatten gefällt es nach wie vor nicht, auf die Hilfe der Basilisken und Greifenreiter angewiesen zu sein«, erklärte Orawéen mit samtener Stimme. »Aber anscheinend sind wir inzwischen so schwach, dass es keine andere Möglichkeit gibt, wollen wir dem Feind wirkungsvoll begegnen.« Sie trat vor und musterte Gorian sehr aufmerksam.
Gorian spürte, wie sie versuchte, seinen Geist zu erforschen, aber der dreifache Ordensmeister ließ es nicht zu.
Ein Lächeln huschte über Orawéens ebenmäßiges Gesicht. »Man könnte beinahe meinen, einen Caladran vor sich zu haben.«
»Was ist mit dem Himmelsschiff, das Ihr und Euer Gemahl mir versprochen habt?«
»Es entsteht gerade. Aus reiner Magie. Das wird es nicht sehr robust machen, aber dafür sehr wendig, und es wird mit Eigenschaften ausgestattet sein wie kein Schiff je zuvor.«
»Es steht kurz vor der Fertigstellung«, versicherte König Abrandir.
»Ich habe gesehen, dass Brass Telir und Eure Schamanen und Magier an Deck dieses Schiffes hier Rituale abhalten, über die ich im Reich des Geistes nichts erfahren habe.«
»Dieser Zauber ist neu«, erklärte König Abrandir. »Sucht
nicht nach irgendwelchen äußerlich fassbaren Zeichen. Nicht nach einem halbfertigen Schiff oder irgendetwas anderem, das dort unten in der Tiefe sein könnte, wenn es dort brodelt und schäumt. Alle wirklich großen Dinge entstehen zuerst im Geist. Erst muss die kommende Schlacht geschlagen werden, dann erst können wir unser Versprechen einlösen, Meister Gorian.«
»So scheint Ihr noch Zeit zu brauchen«, stellte Hochmeister Thondaril fest.
»Ein wenig«, gab Orawéen zu. »Aber versteht uns nicht falsch: Der Moment der Fertigstellung dieses Schiffes ist nicht dadurch bedingt, dass wir es nicht schneller fertigstellen könnten. Es darf nur erst im richtigen Moment geschehen.«
»So versucht Ihr, Euch in der Vorausschau der Schicksalslinien mit Morygor zu messen?«, fragte Gorian, und der Zweifel, der in diesen Worten mitschwang, war nicht zu überhören.
Auf seine Frage erhielt er keine Antwort.
Einen Mondaufgang später wurden Gorian und Sheera in die Siebte Burg gerufen. In einem Kellergewölbe lag im flackernden Schein der Fackeln ein verhüllter Leichnam auf einem Steinblock. Hochmeister Thondaril war ebenso anwesend wie die Meister Shabran und Morgun.
Meister Shabran nahm ein Stück Stoff vom Gesicht des Toten, das dieses bisher bedeckt hatte. Das Haupt eines Schlangenmenschen kam darunter zum Vorschein. »Es ließ mir keine Ruhe, wer der Bogenschütze war, der dem Assassinen den Pfeil durch den Kopf jagte, bevor er sprechen konnte«, sagte der Schattenmeister. »Ich traf ein, kurz nachdem er die Flucht ergriffen hatte, aber ein paar seiner Gedanken konnte ich noch aufschnappen. An diesen erkannte ich ihn,
als ich ihn durch Zufall in der Stadt wiedertraf. Ich folgte ihm, bis er mich bemerkte, dann kam es zum Kampf.«
»Dann hat der Basilisken-Fürst die Assassinen geschickt?«, fragte Hochmeister Thondaril zweifelnd.
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