Gorki Park
Bademantel enger um sich und setzte sich neben Irina, um ihren Puls zu fühlen. Das hochrote Gesicht der jungen Frau war seltsam ausdruckslos; ihre Afghanjacke war nun endgültig in Fetzen gegangen. Arkadi schämte sich wegen ihres Äußeren; dabei ahnte er nicht, wie schlimm er selbst aussah. Lewin hielt ihren rechten Unterarm hoch, um ihm eine blaue Stelle mit mehreren Einstichen zu zeigen. »Injektionen. Ihrer Temperatur nach wahrscheinlich Sulfazin. Schlampige Arbeit.«
»Sie hat sich wahrscheinlich gewehrt.«
»Ja.« Lewins Tonfall unterstrich, für wie töricht er diese Feststellung hielt. Er zündete ein Streichholz an und hielt es dicht an Irinas Augen, wobei er erst das eine, dann das andere zudeckte.
Arkadi hatte noch immer weiche Knie, denn er wusste zu gut, dass er dem Tod nur um Haaresbreite entronnen war. Der U-Bahnzug war noch im Tunnel zum Stehen gekommen, und bis der Fahrer den Bahnsteig erreicht hatte, um von dort aus die Miliz zu alarmieren, hatte Arkadi Irina bereits zu seinem Auto getragen. Er war mit ihr entkommen; um dieses Wort kreisten seine Gedanken. Warum sollte ein Chefinspektor vor der Miliz flüchten? Und warum sollte eine Bewusstlose Lewin so gefährlich erscheinen? Ein wundervolles Land, in dem jedermann Geheimsignale so gut verstand.
Er brauchte einige Zeit, bis er seine Umgebung bewusst wahrnahm. Da er mit Lewin stets nur dienstlich zu tun gehabt hatte, war er noch nie in seiner Wohnung gewesen. Wo bei anderen Krimskrams auf Tischen, Schränken und Wandregalen stand, hatte Lewin Schachbretter mit Figuren aus den unterschiedlichsten Materialien aufgestellt. An den Wänden hingen Fotos von Lasker, Tal, Botwinnik, Spasski und Fischer - alle Großmeister, alle Juden.
»Wenn Sie noch ein bisschen Hirn haben, bringen Sie sie dorthin zurück, wo Sie sie gefunden haben«, sagte Lewin.
Arkadi schüttelte den Kopf.
»Gut, dann müssen Sie mir helfen.«
Sie trugen Irina ins Schlafzimmer und legten sie auf Lewins einfaches Feldbett. Arkadi zog ihr die Stiefel aus und half Lewin, ihr das Kleid über den Kopf zu ziehen und sie ganz zu entkleiden. Alle Kleidungsstücke waren durchgeschwitzt.
Arkadi dachte daran, wie oft Lewin und er schon vor anderen Körpern gestanden hatten, die weiß, kalt und steif gewesen waren. Bei Irina war Lewin eigenartig zurückhaltend. Er fühlte sich offenbar unbehaglich, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. So menschlich hatte Arkadi ihn noch nie erlebt: In Gegenwart von Lebenden war der Pathologe nervös.
Und Irina Asanowa war lebendig, das stand außer Zweifel. Komatös, aber nicht etwa kalt, sondern fiebrig rot. Schlanker, als Arkadi erwartet hatte, so dass ihre Rippen sich unter den schweren Brüsten abzeichneten. Sie starrte Arkadi an und durch ihn hindurch.
Während sie Irina in nasse Tücher wickelten, um ihre Temperatur zu senken, zeigte Lewin auf die schwach bläulich verfärbte Stelle auf ihrer rechten Wange.
»Wissen Sie, woher das kommt?«
»Sie muss einen Unfall gehabt haben.«
»Unfall?« knurrte Lewin. »Waschen Sie sich erst mal. Das Bad ist dort drüben.«
Im Spiegel im Bad sah Arkadi, wie schmutzig er war, und stellte fest, dass er eine blutende Platzwunde auf der Stirn hatte. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging er ins Wohnzimmer, wo Lewin auf einer Heizplatte Tee kochte. Arkadi entdeckte erst jetzt die durch einen Vorhang abgetrennte Kochnische.
»Ich hatte die Wahl zwischen einer Wohnung mit Küche und einer mit Bad. Mir ist das Bad wichtiger.« Lewin räusperte sich, bevor er fast verlegen hinzufügte: »Möchten Sie was essen?«
»Danke, Tee genügt mir. Wie beurteilen Sie ihren Zustand?«
»Ihretwegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie ist jung und stark. Ihr ist einen Tag schlecht, dann hat sie’s überstanden. Hier.«
Er reichte Arkadi eine Tasse Tee.
»Sie glauben also, dass man ihr Sulfazin gespritzt hat?«
»Wenn Sie ganz sichergehen wollen, können Sie sie ja ins nächste Krankenhaus bringen«, schlug Lewin ironisch vor.
Sulfazin war ein vom KGB mit Vorliebe benutztes Betäubungsmittel; sobald er Irina in diesem Zustand in ein Krankenhaus brachte, würde der Nachtarzt den KGB anrufen. Das wusste auch Lewin.
»Danke. Sie haben … «
»Nein!« unterbrach Lewin ihn. »Je weniger Sie mir erzählen, desto wohler ist mir. Mein Vorstellungsvermögen reicht völlig aus; ich frage mich nur, ob Ihres das auch tut.«
»Wie meinen Sie das?«
»Arkadi, Ihr Findelkind ist kein unbeschriebenes
Weitere Kostenlose Bücher