Gorki Park
Blatt.«
»Was soll das heißen?«
»Ich rede von dem Mal auf ihrer Wange. Sie ist nicht zum erstenmal geschnappt worden. Die haben ihr schon vor Jahren Aminazin reingejagt.«
»Ich dachte, Aminazin würde nicht mehr verwendet, weil es zu gefährlich ist.«
»Das ist ja der springende Punkt! Sie spritzen es absichtlich schlecht in einen Muskel, damit es nicht absorbiert wird. Dann bildet es einen bösartigen Tumor - wie bei ihr.
Sie ist auf einem Auge blind, Arkadi. Als der Tumor operiert wurde, hat man gleichzeitig den Sehnerv durchtrennt und dieses Mal zurückgelassen. Das ist ihre Methode, Menschen zu brandmarken.«
»Übertreiben Sie da nicht?«
»Fragen Sie sie doch selbst! Sie sind ja noch blinder!«
»Sie bauschen die Sache zu sehr auf«, wehrte der Chefinspektor ab. »Eine Zeugin ist überfallen worden, und ich habe sie rausgehauen.«
»Warum sind Sie dann jetzt nicht auf der nächsten Milizstation?«
Arkadi stand auf, ging ins Schlafzimmer und wechselte Irinas Wickel. Ihre Arme und Beine zuckten im Schlaf: eine unbewusste Reaktion auf die Temperatursenkung; Arkadi strich Irina das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Das Mal auf ihrer Wange zeigte sich schwach violett verfärbt.
Was wollen sie von ihr? fragte er sich. Sie hatten sich von Anfang an in die Ermittlungen eingemischt.
Major Pribluda hatte die Leichen im Gorki-Park untersucht.
Fet hatte zugehört, als Feodor Golodkin vernommen worden war. Die Mörder in Golodkins Wohnung und die Killer im U-Bahntunnel zeigten, wie sehr sie sich für diesen Fall interessierten. Unterdessen überwachten sie Irinas Wohnung und hatten bestimmt schon eine Liste ihrer Freunde. Irgendwann würden sie es aufgeben, die Krankenhäuser zu beobachten, und Pribluda würde auf Lewin kommen. Lewin hatte Mut bewiesen, aber sobald Irina aufwachte, musste er sie fortbringen.
Als Arkadi ins Wohnzimmer zurückkam, saß Lewin vor einer der aufgebauten Schachpartien. »Sie sieht besser aus«, berichtete Arkadi. »Jetzt schläft sie wenigstens.«
»Ich beneide sie.« Lewin sah nicht auf.
»Möchten Sie eine Partie spielen?«
»Wie gut spielen Sie denn?« Lewin hob den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Wenn Sie gut wären, wüssten Sie’s. Nein, vielen Dank. Sie können ja inzwischen etwas lesen.«
Während Lewin über sein Schachproblem nachdachte, zog Arkadi einen Band Edgar Allan Poe aus dem Bücherregal. Eine Viertelstunde später sah er, dass Lewin in seinem Sessel eingeschlafen war. Um vier Uhr ging er zu seinem Wagen hinunter, fuhr einmal um den Block, um festzustellen, ob er beschattet wurde, und kehrte in Lewins Wohnung zurück. Er durfte nicht länger warten. Er zog Irina die noch immer feuchten Kleidungsstücke an, wickelte sie in eine Wolldecke und trug sie ins Auto.
Unterwegs begegnete ihm nur eine Strassenbau-Sturmbrigade, die für den Maifeiertag »stürmte«: ein einzelner Mann auf einer Strassenwalze leitete vier Frauen an, die dampfenden Asphalt glätteten.
Zwei Strassen vor der Taganska-Strasse hielt Arkadi an, stieg aus und ging zu Fuß zu seiner Wohnung.
Er durchsuchte alle Räume, um sicherzugehen, dass sich dort niemand versteckt hielt. Dann kehrte er zum Auto zurück, fuhr weiter und ließ den Wagen mit abgestelltem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern auf den Innenhof rollen. Er trug Irina nach oben, legte sie aufs Bett, zog sie aus und deckte sie mit Lewins Wolldecke und seinem eigenen Mantel zu.
Als er den Raum verlassen wollte, um hinunterzugehen und das Auto anderswo zu parken, sah er, dass sie die Augen geöffnet hatte. Die Pupillen waren unnatürlich groß, das Weiß der Augen blutunterlaufen. Irina war zu schwach, um den Kopf zu bewegen.
»Idiot«, murmelte sie.
Es regnete monoton. In den Wohnungen über und unter ihm hörte Arkadi gelegentlich Schritte, ins Schloss fallende Türen und Geräusche von Hausarbeit. Eine alte Frau tappte die Treppe hinauf. Bisher hatte niemand an die Tür geklopft oder angerufen.
Irina Asanowa wandte ihm im Schlaf ihr Gesicht zu, das elfenbeinweiß war, seitdem das durch die Spritze hervorgerufene Fieber abgeklungen war. Arkadi hatte angezogen geschlafen. Er hatte versucht, irgendwo einen geeigneten Platz zum Schlafen zu finden, aber da Sonja alle Sessel, das Sofa und sogar die Teppiche aus der Wohnung geschafft hatte, musste er sich schließlich zu Irina ins Bett legen.
Arkadi sah auf seine Uhr. Kurz nach neun. Er stand leise auf, um sie nicht zu wecken, schlich auf Socken ans Fenster und sah vorsichtig
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