Gott bewahre - Niven, J: Gott bewahre - The Second Coming
Hotdog-und Getränkeverkäufer die Schlange entlang. Viele der Freaks sind bereits seit gestern Abend hier und haben die heiße Sommernacht auf dem warmen Bürgersteig verbracht. Touristen drängeln sich vor den extremsten Exemplaren und halten mit der Kamera drauf: Da gibt’s was zu erzählen, in Omaha, Idaho oder Toledo!
Und an extremen Exemplaren fürs Fotoalbum herrscht wahrlich kein Mangel. Etwa dieses Goth-Pärchen, beide über zwei Meter groß, die Irokesenfrisuren zuckerwattepink und cyanblau gefärbt, die Plateausohlen ihrer Industrial-Weltraumstiefel allein fünfzig Zentimeter hoch. Oder die drei als Sexfeen aufgetakelten, identisch aussehenden Schwestern mit den Ballonröcken, Strapsen, prallen Dekolletés unter straff geschnürten Elfenbeinkorsetts und den lilafarbenen
Bob-Frisuren. Da reihen sich Superhelden an Supertransen, bis zur Unkenntlichkeit Kostümierte an fast Nackte, Roboter an solche, die unmöglich zuzuordnen sind. Einige von ihnen sind noch Kinder, andere Rentner, wieder andere scheinen einigermaßen klar bei Verstand zu sein, während manche eindeutig durchgeknallt sind. Viele von ihnen singen, üben Songs, Arien und Tonleitern. Sie drängeln und profilieren sich vor den zahlreichen Fernsehkameras, von denen der Sender einige selbst abgestellt hat, auf der Suche nach Castingszenen, um sie in die Sendung zu schneiden, während andere im Auftrag der New Yorker Nachrichtensender unterwegs sind. Als ein weiterer Kamerawagen die 42 nd Street entlangrollt und aus dem Fenster heraus filmt, bückt sich ein Mädchen, hebt den Rock und präsentiert arschwackelnd zwei füllige weiße Hinterbacken über schwarzen Netzstrümpfen. Ein Mann fällt auf die Knie und kreischt das Intro eines Songs. Ein anderes Paar, ein Riese und ein Zwerg - offensichtlich eine Art Duo -, zieht eine Show ab: Der Zwerg kraxelt blitzschnell auf die Schultern des Riesen, worauf beide drauflossingen. Alle miteinander, die Zwerge, die Riesen, die Alten, die Jungen, die Schönen und Hässlichen, alle leiden sie unter derselben Krankheit: Sie halten Ruhm für eine Art Geburtsrecht.
»Oh Mann«, sagt Jesus und wendet das Gesicht ab, als schon wieder ein Kamerawagen vorbeifährt. »Das ist so unglaublich beschämend.«
»Immer locker, JC.« Kris versucht ihn zum x-ten Mal zu beruhigen. »Immer locker.«
Jesus hat sich seine Gibson auf den Rücken und einen kleinen Pignose-Amp an den Gürtel geschnallt. Er hat an diesem Morgen bereits mehrmals probiert, sich aus dem Staub zu machen, sich aber von Kris immer wieder beschwatzen lassen.
Stunden vergehen, die Schlange schiebt sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts, ohne dass der Times Square selbst wirklich näher zu rücken scheint. Ein Reporter zu Fuß, das
Mikrofon in der Hand, die Kameracrew im Schlepptau, klappert die Schlange ab und führt hier und da Interviews mit potenziellen Kandidaten. Urplötzlich kommt er in ihre Richtung und rammt den beiden attraktiven Mädchen vor Kris und Jesus das Mikrofon unter die Nase.
»Hallo zusammen«, sagt er, »Tom Barker vom ABN-Frühstücksfernsehen. Wie lang wartet ihr schon hier, Mädels?«
»Oh mein Gott! Seit fünf oder sechs heute Morgen, Tom. Wir sind mit dem Bus aus Jersey gekommen. Ich bin Debbie, und das ist Tammy, wir sind The Foxes!« Die letzten beiden Worte trällern sie im Chor.
»Glaubt ihr, dass ihr es in die Show schafft?«
»Aber klar!«, sagt Debbie, »mach dich auf was gefasst, Amerika. « Den Reporter ignorierend, fällt ihr Tammy ins Wort und kreischt direkt in die Kamera: » We’re comin’ atcha! « Dann setzen beide unisono zu einer unglaublich schlechten Version einer Britney-Spears-Nummer an.
»Oh, Mann«, seufzt Jesus und blickt hinauf zum Himmel. »Gott, warum hast du mich verlassen?«
Samantha Jansen, Produktionsleiterin von AMERICAN POP STAR , an diesem Morgen frisch aus Los Angeles eingeflogen, presst die Stirn gegen die getönte Scheibe des Bürofensters und blickt fünfzehn Stockwerke nach unten auf die Ecke Times Square und 42 nd Street, wo die Menge einen ruhigen und friedlichen Eindruck macht. »Wie viele?«, fragt sie.
»Ähm, wir schätzen«, antwortet ihr Assistent Roger, der auf der Kante ihres Schreibtischs sitzt und ein Clipboard mit einem Bündel Memos inspiziert, »beinahe zehntausend. Ein Plus von zwanzig Prozent, verglichen mit dem letztjährigen Casting in NYC.«
»Und verglichen mit anderswo?«, fragt Jansen, dreht sich herum, verschränkt die Arme und lehnt sich rücklings an
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