Gott Braucht Dich Nicht
der andere bleibt, wenn er stirbt. Und zwar wirklich. Wer einen Menschen liebt, der hat doch die Not, dass diese Liebe durch den Tod des Menschen zum Witz wird. Ziellos. Faul. Die Liebe bleibt, aber ihr Ziel ist weg und futsch. Dann muss man diese Liebe irgendwo in der Vergangenheit verankern, dann liebt man rückwärts, dann lässt man sich den Köter ausstopfen oder die Urne auf den Kamin stellen, oder man bastelt einen Schrein und schaut sich jeden Abend alte Videos an, auf denen der Tote lachend in die Kamera winkt, so lange, bis das Band an dieser einen Stelle knitterig wird und das Bild verwackelt.
Wer das nicht will angesichts des Todes, dem bleibt nichts anderes übrig, als seine Liebe sterben zu lassen mit dem, der stirbt, um Erlösung zu erlangen von der Liebe. Denn wenn die Person nicht mehr existiert, nirgendwo, dann ist meine Liebe überflüssig. Sie macht weder die Person noch mich lebendig. Sie ist dann Liebe, die einem am Bein hängt und mit einem nur noch durchs Leben stolpert, weil sie nicht mehr nach vorne sehen kann, sich die ganze Zeit nach hinten umdreht, erinnert, weil sie sich nur noch an mir festkrallt, weil sie den Absprung verpasst hat zu gehen, mit dem, der gegangen ist.
Wenn es so ist, dachte ich damals, wenn das das Ziel sein musste, dass die Liebe logischerweise, auch wenn es sich die wenigsten eingestehen, mitsterben soll, dann – dagegen vermochte ich nichts zu sagen.
So eine Liebe kannte ich nicht. Ich kannte nur Liebe, die Ewigkeit fordert. Eine andere hatte ich nicht. Und wenn sie als Säugling vor mir gelegen wäre, dann hätte ich ihr doch, früher oder später, das Genick brechen müssen. Weil man das Krähen nicht aushält. Weil einen das wahnsinnig macht.
11
Über die Bühne in der Aula sprangen junge Menschen in Kostümen afrikanischer Ureinwohner. Sie hatten nicht die Eleganz, die den Bewegungen mancher Afrikaner innewohnt. Es waren deutsche Teenager, und zu ihren Hüftschwüngen und Sprüngen hätten Medizinbälle besser gepasst als Buschtrommeln. Sie jauchzten auch sehr deutsch.
Schulgottesdient. Den schwänzte ich meistens. Das letzte Mal, als ich da war, ging es um die Beschneidung von Frauen. Wir waren alle sehr betroffen. Heute tanzten sie also. Als sie «Jesus ist verknallt in dich» schrien und dabei die Rückkopplung des Mikros aus den Boxen pfiff, verließ ich die Andacht, steckte mir auf dem Schulhof eine Kippe an und hoffte für die Leute da drinnen, dass Jesus nie mit ihnen Schluss machen würde, wenn seine Schmetterlinge im Bauch verflogen sind.
Kaum war ich auf dem leeren Schulhof, kam wieder diese Unruhe, und der Gedanke daran, dass es jetzt eigentlich besser wäre, hier direkt abzuhauen. Gar nicht erst auftauchen in der Schule. Dann könnte ich die Entschuldigung von gestern verlängern. Dann sähe es wirklich nach Grippe aus, nicht nach dem, was es war: ein Tag gefehlt, dann noch einen, dann wieder einen Tag gekommen, zur vierten Stunde gegangen und dann wieder gefehlt.
Ich wusste genau, dass so etwas in einer kleinen Katastrophe endet, wenn man andauernd schwänzt. Aber ich konnte nicht. Es hätte feststehen müssen, dass ich in die Schule gehe. Man hätte mir das eingraben und einpflanzen müssen, an dem Ort in mir, ich weiß nicht, da an die Stellen, wo die Grundsätze sind. An dem Ort, wo ich mich seit neuestem andauernd aufhielt. War ziemlich kahl da unten. Wenig los. Viel weggefegt. Nur so ein Surren. So ein paar kranke Falter, die versuchten zu landen, aber es gab keinen richtigen Grund.
Diese ganzen Gedanken, die damals anfingen, über das Leben und den Tod, dieses Gemotze von mir über die Weltanschauungen der Erwachsenen und meines Umfeldes, das war so ein heiseres Bellen von mir, von diesem Köter, der da unten auf dem öden Spielplatz saß, auf dem die Schaukeln und Sandgruben abgeräumt waren. Irgendwie habe ich das da bewacht. Es durfte nichts rein, was irrational war. Ich dachte, ich könnte die Welt bedenken. Und nur der Wirklichkeit den Einzug gewähren.
Ich wollte jetzt Fakten. Wenn der Tod so ein strenger Fakt ist, dann hat das Leben genauso strenge Fakten zu haben. Ich ging an der Straße vor dem Schulgelände entlang. Es gab hier viel Grün, viele Bäume und dazwischen ein paar Häuser. Die waren alle nach dem Krieg gebaut worden. Vorher gab es hier keine Stadt, das wusste ich. Es gab ein Waffenlager. Und dann, nach dem Krieg, als so viele Aussiedler kamen, da hat man hier Häuser hingebaut. Vorher war hier Wald, dann
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