Gott geweiht
Begebenheit aus den letzten Stunden von Jesus Christus. Dabei geht es darum, bei jedem dieser wichtigen Momente im Leiden und Sterben Jesu Einkehr zu halten. Diese Praktik ist besonders unter Katholiken verbreitet und wird in Italien auch Via Dolorosa oder die schmerzensreiche Straße genannt.«
»Und wie kommen Sie jetzt darauf?«, wollte Butts wissen. Auf seiner Stirn kräuselten sich dicke Falten. Wenn er sich so konzentrierte, hatte sein Gesicht Ähnlichkeit mit dem einer Bulldogge.
Nelson deutete auf eine Weitwinkelaufnahme, auf der neben einem abgetrennten Bein des Mädchens auch deutlich ein gläsernes Mosaikbild vom personifizierten Tod zu sehen war. »Die erste Station des Kreuzwegs ist die Verurteilung Jesu zum Tode.« Er deutete auf das zweite Foto, das Sophias Arm unter dem Kreuz liegend zeigte. »An der zweiten Station erhält Christus das Kreuz, an das er geschlagen werden soll. Und dies hier«, er wies auf das Foto mit dem anderen Bein auf der Kellertreppe, »das ist die dritte Station, wo Jesus das erste Mal unter dem Gewicht des Kreuzes zusammenbricht.«
»Und was ist mit dem hier?«, wollte Florette wissen und deutete auf die Fotoserie von Sophias zweitem Arm unterhalb eines Vesperbildes.
»Das ist die vierte Station«, erklärte Nelson. »Auf seinem letzten Gang begegnet Jesus seiner Mutter.«
»Meine Güte«, entfuhr es Chuck, während er sich trotz der Kühle im Raum den Schweiß von der Stirn wischte. »Und was sagt uns das alles?«
»Eine Menge«, gab Nelson zurück. »Die gute Nachricht ist, je bizarrer und obsessiver seine Rituale werden, desto mehr ist anzunehmen, dass auch sein Verhalten im alltäglichen Leben auffälliger wird. Die schlechte Nachricht ist, dass seine Morde immer bestialischer werden, was ihn noch gefährlicher macht.«
»Ich glaube immer noch, dass wir es vielleicht mit zwei Tätern zu tun haben«, warf Lee ein. »Diese plötzliche Änderung der Signatur –«
»Komm schon, Lee! Wenn du irgendetwas von mir gelernt hast, dann ja wohl, dass sich eine Signatur mit der Zeit durchaus entwickeln und verändern kann!«, unterbrach ihn Nelson abrupt.
»Ich weiß«, beharrte Lee. »Ich denke nur, dass –«
»Glaubst du, er hat was mit Lauras Verschwinden zu tun?«, wechselte Nelson das Thema.
»Mein Instinkt sagt mir Nein. Zunächst einmal, weil ganze fünf Jahre dazwischen liegen. Und außerdem wäre das wirklich ein zu großer Zufall.«
»Aber wie hätte er sonst von dem roten Kleid wissen können?«, warf Florette ein.
»Vielleicht kennt er den Typen, der es getan hat«, schlug Butts vor.
»So kommen wir nicht weiter«, murrte Chuck. »Hat jemand sich die Kirchenkreise und Wohltätigkeitsprogramme der Gemeinden vorgenommen?«
»Ja«, meldete sich Florette. »Einige haben Anwesenheitslisten, aber die werden nicht sehr genau geführt.«
»Anwesenheitslisten …«, murmelte Butts. »Werden da Namen und Adressen abgefragt?«
»Nur auf freiwilliger Basis«, antwortete Florette. »Aber vielleicht finden wir ja doch was.«
Er nahm einen Haufen Papiere aus seinem Aktenkoffer. »Das hier sind die Listen der letzten Zeit – zumindest die, die ich bekommen konnte. Fordham hebt die nicht länger als ein paar Tage auf, Saint Francis Xavier hingegen schon, und Old St. Patrick’s nimmt die Namen in der Regel sogar in ihren Postverteiler auf. Bei St. Patrick’s haben wir Glück gehabt – die haben den Verteiler noch nicht aktualisiert, also waren die alten Listen noch verfügbar.«
Er schob die Kaffeebecher zur Seite und verteilte die Anwesenheitslisten auf dem Schreibtisch, ein halbes Dutzend zerknitterter, fleckiger Zettel, die per Hand beschriftet waren.
Lee besah sich einen Zettel von Saint Francis Xavier. Nichts Ungewöhnliches auf den ersten Blick. Die Hälfte der Namen war männlich, die meisten hatten weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer angegeben. Er nahm sich eine der anderen Listen. Darauf hatte sich jemand ganz unten mit dem Namen Samuel Beckett eingetragen.
Er reichte das Blatt an Nelson weiter. »Was hältst du davon?«
Nelson inspizierte die Liste und runzelte die Stirn. »Sehr witzig.«
»Darf ich die Liste von St. Patrick’s bitte einmal sehen?«, bat er Butts, der diese gerade prüfte.
»Na klar«, sagte Butts und gab sie ihm.
Lee warf einen Blick auf das Blatt. Es waren andere Namen als auf der Liste von Saint Francis Xavier verzeichnet, mit einer Ausnahme – Samuel Beckett. Die gleiche feine, geradezu zarte Handschrift, sie wirkte
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