Gott geweiht
sagte Chuck. »Ich weiß im Moment gar nichts mehr.«
»Denk doch mal nach«, erwiderte Lee. »Sie wurde mit ausgebreiteten Armen in der Pose einer Gekreuzigten gefunden, genau wie die anderen – der einzige Unterschied war, dass sie nicht in einer Kirche lag.«
»Und sie war nicht verstümmelt.«
»Nein. Wahrscheinlich weil der Täter sich dort nicht wohlgefühlt hat. Er hatte das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Oder …«
Lee blickte die Straße hinunter – von seinem Standpunkt aus konnte er die langen, grauen Rauchschwaden sehen, die von den Ruinen des World Trade Center aufstiegen. Heute hing der Geruch der Vernichtung noch stärker in der Luft als sonst.
»Oder was?«, sagte Chuck.
»Er verfeinert seine Signatur von Mal zu Mal – so wie mit dem Blut im Wein, was ja auch neu hinzugekommen ist. Haben die DNA -Tests irgendwas ergeben?«
»Es war alles ihr Blut. Nicht wirklich überraschend.«
»Was mir an der ganzen Geschichte nicht gefällt, ist, dass er immer planvoller vorgeht, statt nachlässiger zu werden«, sagte Lee. »Das bedeutet, dass er nicht wie viele andere Mörder langsam zusammenklappt, sondern zunehmend kontrollierter wird.«
»Hast du diesen Willow noch mal gesehen?«, fragte Chuck, als sie einer Gruppe von Schulkindern auswichen. Die Kinder mussten ungefähr sieben Jahre alt sein. Genau in Kylies Alter, dachte Lee. Sie hielten sich an den Händen und marschierten in Dreierreihen, gefolgt von einer gequält wirkenden Lehrerin. Sie hatte die Arme voller Hefte und Blätter und trug eine gestreifte südamerikanische Wollmütze, deren Bommel vor und zurück hüpfte, während sie ihren Schülern nachlief.
»Noch nicht.« Lee wartete darauf, dass Eddie sich bei ihm meldete, aber bisher hatte er nichts von seinem Freund gehört.
»Hast du deine Aussage zur Dienstaufsichtsbehörde geschickt?«
»Ja, habe ich. Gleich nachdem dieser Typ in deinem Büro aufgetaucht ist.«
»Meine Güte«, sagte Chuck. »Geht dir das nicht – irgendwie an die Nieren?«
Lee sah ihn an. »Chuck, im Moment geht mir alles an die Nieren, okay?«
»Okay, okay. Du musst mir ja nicht gleich den Kopf abreißen. Ich hab doch nur gefragt.«
»Pass auf, ich sag dir, wie es mir mit all dem hier geht. Das ist eine üble Geschichte, aber es gibt mir die Möglichkeit, etwas zu tun , es ist etwas, was ich kontrollieren kann, verstehst du? Was diese Typen machen, kann ich zwar nicht beeinflussen, aber ich kann dabei helfen, sie zu schnappen. Das lässt mich morgens aufstehen. Eine ganze Zeit lang war das die schwerste Aufgabe des Tages. Und wahrscheinlich auch jetzt noch.«
Chuck blieb stehen und schob sich die Hände in die Hosentaschen. »Ich weiß, dass du eine Menge mitgemacht hast«, sagte er, den Blick auf den Verkehr gerichtet, der sich lautstark über die First Avenue schob. »Ich wollte nur – na ja, ich mache mir halt einfach manchmal Sorgen um dich, weißt du? Ich meine, ich will dir nicht blöd kommen oder so, aber mir scheint, du bist zurzeit wirklich nicht in der besten Verfassung.«
»Ach wirklich?« , sagte Lee. »Das s cheint dir so?«
Das kam den beiden auf einmal wahnsinnig komisch vor, und sie brachen in lautes Gelächter aus. Eine vorbeilaufende Brünette im Trainingsanzug glaubte offenbar, dass die zwei Männer sich über sie und ihr Power-Walking lustig machten, und runzelte die Stirn. Ohne aus dem Takt zu kommen, zog die dünne Frau an ihnen vorüber und setzte dabei eine verächtliche Miene auf. Darüber mussten die beiden nur noch lauter lachen. Je mehr sie versuchten, es zu unterdrücken, desto weniger gelang es ihnen. Ihnen liefen schon die Tränen über die Wangen, und das hysterische Gelächter setzte sie derart außer Gefecht, dass sie gezwungen waren anzuhalten. Lee lehnte sich erschöpft an eine Parkuhr, Chuck brach auf der Treppe eines Delikatessengeschäfts zusammen und hielt sich vor Lachen den Bauch. Auch Lee bekam Bauchschmerzen, aber er konnte einfach nicht aufhören zu lachen.
Vorübergehende Passanten machten ein missbilligendes Gesicht, als wollten sie zum Ausdruck bringen, dass eine solche Ausgelassenheit so kurz nach der größten Tragödie der Stadtgeschichte mehr als unpassend sei. Aber es war keine Ausgelassenheit, das wusste Lee. Es war eher ein Loslassen, ein völliger Kontrollverlust. Durch die Anspannung der letzten Tage hatte sich ein ungeheurer Druck aufgebaut, der sich nun in einer wahren Lachsalve entlud. Sogar das Atmen schmerzte, und weiter zu lachen war
Weitere Kostenlose Bücher