Gott geweiht
seit ihrem Tod allerdings war es damit vorbei. Bücher und Fachzeitschriften lagen einfach überall im Zimmer herum – Lee fragte sich bei dem Anblick, wie ein einzelner Mensch so viel lesen konnte. Es gab Bücher zu allen möglichen Wissensgebieten, von Archäologie über Philosophie bis hin zur Physik und Naturgeschichte.
Nelson stand in der Mitte des Zimmers und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Lee entschied, dass er seinem Freund in diesem Zustand lieber verschwieg, was am Tag zuvor passiert war. Von der Verfolgungsjagd würde Nelson schon noch früh genug erfahren.
»Was möchtest du trinken?«, erkundigte sich Nelson.
Erst jetzt fiel Lee die Flasche Scotch wieder ein, die er in der Hand hielt.
»Ich wusste nicht mehr, ob das nun genau deine Marke ist«, erklärte er, als er sie überreichte.
»Wenn da Alkohol drin ist, ist es meine Marke«, antwortete Nelson, und Lee bedauerte, dass er einen so teuren Single Malt genommen hatte.
Aber als sein Freund mit zwei Whiskygläsern aus Kristall zurückkam und eines davon Lee reichte, war er doch froh. Der Scotch hatte ein volles erdiges Aroma, das an Pinien und Waldboden erinnerte.
»Nett von dir, dass du so gutes Zeug mitgebracht hast.« Nelson nahm in einem abgewetzten blauen Sessel Platz. Sein Irish Setter trottete aus der Küche und ließ sich zu seinen Füßen nieder. Nelson beugte sich vor und kraulte den Hund zwischen den Ohren.
»Und danke, dass du hergekommen bist«, sagte er und trank einen Schluck Scotch. »Ich wollte einfach nicht alleine sein. Seltsam, wie mich das auf einmal wieder erwischt hat …« Er starrte einen Moment lang auf sein Glas, bevor er weitersprach. »Ich mache mir immer die gleichen Vorwürfe. Ich denke, wenn ich sie nur noch mehr geliebt hätte, wäre sie noch am Leben.«
»Sie war sehr, sehr krank, das weißt du doch.«
Nelson sah blicklos auf den seidig glänzenden Kopf seines Hundes hinunter. »Ja, mein Verstand weiß das, aber mein Gefühl sagt, dass sie es nicht über sich gebracht hätte, mich zu verlassen, wenn ich sie noch mehr geliebt hätte.«
»Aber das war doch keine Entscheidung, die sie getroffen hat …«
»Ich weiß! Das habe ich mir schon tausendmal gesagt, aber trotzdem glaubt ein Teil von mir, dass Karen eben nicht genug am Leben gehangen hat. Dass sie … einfach aufgegeben hat.«
»Meine Güte«, sagte Lee. »Du musst damit aufhören, dich für ihren Tod zu bestrafen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Nelson blickte in sein Glas, dann sah er Lee an. »Wie bist du damit fertig geworden?«
»Ich glaube nicht, dass man je aufhört, den verlorenen Menschen zu vermissen. Man lernt nur, mit dem Verlust zu leben.«
»Ich komme immer noch nicht damit zurecht, dass ich auf ihre Krankheit keinerlei Einfluss hatte und nichts tun konnte.«
»Das geht vielen Leuten so in dieser Situation.«
»Ja doch«, erwiderte Nelson mit seiner üblichen Ungeduld. »Das ist mir durchaus bekannt. Aber wenn es einen selbst trifft, ist es immer etwas anders, verstehst du?«
»Ja, nur zu gut.«
Nelson hustete – es war der tiefe, raue Husten eines Mannes, der sein Leben lang geraucht hatte. Lee sah ihn streng an. Die ganze Wohnung stank nach Nelkenzigaretten.
»Wann hörst du auf zu rauchen?«
»Verdammt, Lee, eins nach dem anderen!« Er unterbrach sich kurz. »Ich habe nie in ihrer Gegenwart geraucht«, fügte er dann hinzu. »Nicht einmal, bevor sie …«
»Das weiß ich doch«, sagte Lee.
»Ist es nicht sonderbar, wie viele unserer Ängste aus der Urangst vor dem Verlassensein entspringen?«
Lee musterte den gelbbraun leuchtenden Whisky in seinem Glas. »Ja, so gesehen, gilt das sogar für …« Er unterbrach sich und wandte den Kopf ab.
»Für was? Wofür gilt das?«
»Ich dachte gerade an unseren Fall.«
Nelson lehnte sich zurück. »Erzähl.«
»Nein, ich wollte nicht vom eigentlichen Thema ablenken und –«
»Herrgott, nun red schon, du hast mich neugierig gemacht!«, brüllte Nelson. »Oder glaubst du etwa, ich will den Abend damit verbringen, über Karens Tod in Selbstmitleid zu zerfließen? Na los, lenk mich ab!«
»Okay. Nicht, dass es eine besonders großartige Erkenntnis wäre. Ich wollte nur sagen, dass sich bei ihm auch alles um das Gefühl des Verlassenwerdens dreht.«
»Du meinst den Schlitzer?«
»Ja. Natürlich geht es um Kontrolle – aber die Ursache ist die Angst vor dem Verlassenwerden.«
»Inwiefern bringt uns das weiter?«
»Er kann nicht einmal den normalen Sexualtrieb
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