Gott ist tot
er zu Boden fallen lassen, wo der Sand noch nass von der Flut war, und wenn er sie nachher beim Heimweg wieder über die Schulter nahm, würde sein Rücken feucht werden und alles nach Muscheln stinken. Aber das scherte ihn nicht. Er zündete sich eine Zigarette an, trotz allen Bemühens nicht ganz so routiniert und lässig wie die ledrigen Fischer auf dem Festland, denen die halbgerauchte Pall Mall buchstäblich in den Mundwinkel implantiert zu sein schien. Er nahm flache Züge, inhalierte bedächtig. Er sah die Fähre in der Ferne verschwinden und fühlte sich bedeutsam dabei, ein Denker voll tiefschürfender Gedanken. Die Pose war für ein imaginäres Publikum von exakt einer Person intendiert. Und obwohl er wusste, dass er es jeden Moment mit einem realen und höchst unwillkommenen Publikum in Gestalt seiner Mutter Selia zu tun bekommen konnte, scherte ihn das ganz genauso wenig.
Arnold war verliebt. Und das gehörte (wie Arnolds wachsender Glaube an die Postmoderne Anthropologie) zu den zahlreichen Dingen, die sein Vater und Selia nicht kapierten.
Arnold war natürlich intelligent genug, um zu ahnen, dass bei allen Unterschieden zu früher das eine oder andere gleich geblieben sein musste. Sein Vater und Selia waren als Teenager bestimmt auch mit ihren Eltern aneinandergerasselt.
Gut, sein Vater vielleicht nicht. Aber Selia hundertprozentig. Arnold konnte sich bestens vorstellen, wie sie abends länger ausblieb als abgemacht, viel zu schnell fuhr, harte Jungs unter den Tisch trank, mit denen sie eigentlich gar keinen Umgang haben durfte, und hinterher mit ihnen ins Bett ging. Wie sie deswegen einen Riesenkrach mit ihrem Vater hatte und für eine Weile von zuhause verschwand. Der einzige Unterschied war, dass sie und Arnolds Dad keine Probleme damit hatten, wen er liebte - sie kannten Amanda ja gar nicht, genauso wenig wie Arnold selbst übrigens. Sie hatten ein Problem damit, wie er sie liebte. Und das war das, was sie eben nicht kapierten, weil die Welt sich verändert hatte, aber sie hatten sich nicht mitverändert.
Denn so war die heutige Liebe: Arnold saß da und sonnte sich in Amandas Blick, der aus unerreichbarer Ferne liebevoll auf ihm ruhte. Sie war überall und nirgends, sie beobachtete ihn, egal ob er sich hier an seinem Strand eine Zigarette anzündete, pfeifend unter der Dusche stand oder in der Schule die Übel der Evolutionspsychologie auseinandergesetzt bekam. Wohin er auch ging, was er auch tat, Amanda war bei ihm, und dieses Gefühl unablässigen Gesehenwerdens, selbst noch im Schlaf, versetzte Arnold in einen Zustand beständigen, verzehrenden Aufgeputschtseins, vor dem es keinerlei Entrinnen gab.
Nicht dass er ihm hätte entrinnen wollen. Im Gegenteil, er schwelgte im Hochgefühl der Liebe, wie nur ein Teenager es konnte - kritzelte seitenweise Gedichte auf Amanda, schickte täglich Hunderte von SMS an ihr Handy (die sie unbeantwortet ließ, zum Glück, denn real mit ihr zu tun zu haben, in echten Dialog mit ihr zu treten, das wussten Arnold und seine Altersgenossen intuitiv, hätte alles zerstört). Nicht einmal die Zähne konnte er sich putzen, ohne zu überlegen,
welches Bild er wohl für Amanda abgab - ob seine Haltung ihre Zustimmung fand, seine kreisenden Putzbewegungen statt der vertikalen, die schließlich auch ihre Befürworter hatten, die Grimassen, die er schnitt, um noch die hintersten Backenzähne zu erreichen.
Er wollte den aufgerauchten Zigarettenstummel gerade wegschnippen, in einem nonchalanten Bogen, wie Amanda es gern hatte, als Selia hinter dem Felsrand auftauchte, Hosenbeine über den Waden hochgeschlagen, den Muscheleimer in der Hand.
»Shit«, murmelte Arnold in sich hinein. Er beeilte sich, die Zigarette loszuwerden, und aus dem nonchalanten Bogen wurde ein Absturz; in einer müden Abwärtskurve landete die Kippe im Sand, nur Zentimeter vor seiner Stiefelspitze. Amanda würde wenig beeindruckt sein.
»Und du bist jetzt unter die Raucher gegangen?«, sagte Selia im Näherkommen. In den Abdrücken ihrer nackten Füße quoll Meerwasser empor. »Ein bisschen Öl ins Feuer gießen, was, Junge?«
Arnold erwiderte nichts. Wenn seine Mutter sich aufregte, zog man am besten den Kopf ein und wartete, bis es vorbei war. Ihre Anwürfe waren Fallstricke, und je mehr man nach Ausreden suchte oder herumargumentierte, desto heftiger fiel die Strafpredigt aus.
Selia gab ihm den Eimer mit Harke und Schaufel darin zum Halten. Im Weiterreden krempelte sie sich die Hosenbeine noch
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