Gott ist tot
einmal höher, bis übers Knie. »Mach, was du willst. Mir doch gleich. Ich bin ja bloß eine alte Schachtel, die zufällig deine Mutter ist. Rauch, wenn es sein muss. Rauch Pfeife. Rauch irgendwelches Kraut. Zerkrümelte Bananenschalen von mir aus.« Sie richtete sich auf und streckte die Hände aus, und Arnold reichte ihr schweigend den Eimer.
»Zieh los und geh zur Armee, wenn du schon dabei bist«, fuhr Selia fort. »Zieh in den Krieg. Lass dich zum Ruhme der PoMos von Kugeln durchsieben. Erschlag eine ganze Einheit von EvoPs mit einem Suppenlöffel. Brauchst nicht zu denken, dass mir das irgendwas ausmacht.«
Arnold riskierte nicht mehr als einen mürrischen Blick. Er wusste, Amanda erwartete von ihm, dass er den Mund aufmachte, sich verteidigte, seine Souveränität unter Beweis stellte. Aber er widersetzte sich Selia lieber nur indirekt - durch heimliches Rauchen zum Beispiel. Zumal seine Mutter so eine Art hatte, ins Schwarze zu treffen. Er hatte die Kriegsnachrichten verfolgt. Er hatte alles über den Siegeszug der Evolutionspsychologen in Neuguinea und weiten Teilen Australiens gelesen. Und mit einem seltsamen Gemisch aus Grauen und Ungeduld hatte er gedacht, dass er als Mitglied (gut, Junior-Mitglied) der PoMo-Partei doch eigentlich die Pflicht hatte, seinen Glauben zu verteidigen, gerade in einer solchen Krisenzeit.
Die Vorstellung, vor Amandas Augen eine Schneise in die Reihen der EvoPs zu schlagen, löste ein leises Kribbeln in seinem Unterleib aus.
Aber woher wusste seine Mutter über alle diese Dinge Bescheid, obwohl sie seinen Kopf doch gar nicht verließen?
Nach ein paar Sekunden beiderseitigen Schweigens wurde Selias Blick eine Spur versöhnlicher, und sie hielt ihm die Schaufel hin. »Komm«, sagte sie. »Hilf mir beim Muschelsuchen.«
Arnold zögerte. Nur weil er den offenen Konflikt mit Selia scheute, hieß das noch lange nicht, dass er in einen Waffenstillstand einwilligte. Er hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr mit ihr nach Muscheln gegraben - früher, als er noch nicht die Schule auf dem Festland besuchte, waren sie fast jeden Tag zusammen
losgezogen. Es war etwas, das ihm immer Freude gemacht hatte: so einträchtig mit ihr tätig zu sein, einmal nicht nur als ihr Herzblatt, sondern als ihr tüchtiger Helfer, der den schweren Muscheleimer ganz allein heimschleppte, mit den eigenen beiden Händen. Zuhause hatte sein Vater dann schon den Kessel auf dem Gasherd aufgesetzt, und der Dampf schoss unter dem Deckel hervor. Und eine Mahlzeit zu essen, die er sich selber erarbeitet hatte - die Finger klebrig von Butter und Meersalz, sie alle drei redend und lachend -, hatte Arnold immer aufs Tiefste befriedigt, sogar schon als Kind.
Aber er war kein Kind mehr. Und dieser Tage war das Essen, in den meisten Fällen zumindest, eine stumme, freudlose Angelegenheit. Er verschmähte die Schaufel, die Selia ihm hinstreckte, drehte sich weg und hob seine Schultasche aus dem Sand auf.
Selia zuckte die Achseln. »Dann eben nicht«, sagte sie. Ihr Ton kam Arnold ein wenig zu ungerührt vor, und es gab ihm einen Stich zu merken, dass er sie verletzt hatte, obwohl genau das seine Absicht gewesen war.
In seinem Zimmer zündete Arnold die beiden Kerzen auf dem Wandbord an, über dem er das gerahmte Foto von Amanda aufgehängt hatte. Er setzte sich aufs Bett und schaltete sein Handy ein, diesen unentbehrlichen Begleiter eines Teenagerlebens, den sein Vater ihm trotz Selias Protesten endlich doch gekauft hatte. Zweihunderdreiundfünfzig neue SMS warteten auf ihn, alle von Lisa Beard, einer Zwölftklässlerin in der Mädchenschule auf dem Festland. So war die heutige Liebe - wie das Gros seiner Altersgenossen hatte auch Arnold seine eigene Verehrerin, die er nicht kannte und auf deren Nachrichten er nicht reagierte. Er
löschte sie, ohne sie zu lesen, und tippte seine eigene Nachricht an Amanda:
göttliche amanda - öffne mir die lippen, und mein mund wird dein loblied verkündigen.
ewig der deine
Arnold drückte auf Senden. Er legte das Handy neben sich aufs Bett, rutschte bis zum Kopfbrett hinter, die Füße in den Stiefeln mitten auf der Tagesdecke, und überlegte einen Augenblick. Dann nahm er das Telefon wieder und tippte:
göttliche amanda - es steht nicht gut, und ich brauche deine hilfe. ich habe das gefühl, nicht mehr hierherzugehören. auf mich warten größere dinge, und ich weiß, du wünschst dir von mir, dass ich mich diesen aufgaben stelle. die pomo-anthropologie lehrt uns, dass es
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