Gott ist tot
warm für Mitte April, warm und sonnig, ein Prachtwetter für eine Parade. Arnold und sein Vater setzten mit der Fähre aufs Festland über und folgten dann den Menschenmassen in die Innenstadt, wo die Leute schon jetzt in zehnter und zwölfter Reihe zu beiden Seiten des Korsos standen und die Hälse langmachten. Kleine Kinder auf den Schultern ihrer Väter thronten über der Menge, Miniatur-Fahnen in den winzigen Fäusten. Alle machten unaufgefordert den Alten und Behinderten Platz, für die entlang dem Straßenrand Gartenstühle aufgestellt waren.
Die Parade begann pünktlich um zehn. Von seinem Platz auf der Westseite des Korsos konnte Arnold alles ein Stück früher hören als sehen. Das Erste war ein lautsprecherverzerrtes Lied, das langsam näher rückte. Nach einer Weile erkannte er die Melodie: »Die PoMos, unser ganzer Stolz«, ein altes Marschlied, das sich im letzten Krieg, als Arnold noch daheim unterrichtet worden war, extremer Beliebtheit erfreut hatte. Jetzt allerdings war es mit schmissigen Disco-Rhythmen unterlegt, und eine Gruppe kleiner Mädchen zwischen sechs und zehn in paillettenbesetzten lila Trikots und Ballettschühchen führte zum Stampfen der Bässe einen schlecht abgestimmten Tanz auf. Hinter ihnen kamen ein gepanzerter Mannschaftstransporter, zwei Geschütze, die von Lastern mit Tarnanstrich gezogen wurden, und ein Traktoranhänger mit einer Seitenbespannung, die gutaussehende, grimmig dreinschauende junge Uniformierte zeigte. »Unsere Erwählten« stand darunter.
Mehr als zwanzig Minuten rollte die Parade an der applaudierenden Menge vorbei. Feuerwehrautos ließen ihr Blaulicht blitzen und ihre Sirenen heulen. Militärkapellen marschierten, desgleichen ein Häuflein humpelnder Veteranen in Uniformen von damals, die ihnen längst nicht mehr passten. Dazwischen kurvten die Logenbrüder der Shriners in Miniautos herum, die Knie bis zu den Ohren gewinkelt, und fuhren Achten. In dem letzten Fahrzeug der Prozession, einem Cabriolet, saßen Mike Raboteau und seine Eltern und winkten mit mechanischen Bewegungen schwächlich in die jubelnde Menge.
In der Mitte des Korsos war ein Podium aufgebaut, beschattet vom Baum des Freien Willens, einer mächtigen alten Ulme, die man an diese Stelle verpflanzt hatte, nachdem der ursprüngliche - schon als Setzling der Willensfreiheit geweihte - Stadtbaum von Bibern umgenagt worden war. Das Cabriolet rollte unter dem Baum aus, und der Bürgermeister und ein großer, angegrauter Mann in der Uniform eines Marineinfanteristen begrüßten die Raboteaus, als diese die Stufen des Podiums emporstiegen.
Nachdem die Familie ihre Plätze eingenommen hatte, trat der Bürgermeister an das Rednerpult in der Mitte des Podiums und beugte sich zum Mikrofon vor. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute gekommen sind«, sagte er, und seine verstärkte Stimme hallte von den Ziegelfassaden der Häuser rund um den Korso wider. »Mit Ihrer Anwesenheit erweisen Sie unserem gefallenen Helden, Corporal Paul Raboteau, und seiner Familie die Ehre. Viele von uns kannten Paul als einen gescheiten, aufrechten jungen Mann und engagiertes Parteimitglied der Postmodernen Anthropologen. Ihn zu kennen war eine Freude und eine Bereicherung für uns alle, und ihn verloren zu haben, zu einer Zeit auch noch, da wir alle Paul
Raboteaus dieser Welt so dringend brauchen, schmerzt uns über die Maßen.«
Die Menge, vor wenigen Minuten noch so aufgeputscht, lauschte der Lobrede des Bürgermeisters still und ernst.
»Wie die meisten von Ihnen wissen, war Paul einer der Marines, die den Abzug aus Neuguinea verweigerten und lieber einem beinahe sicheren Tod ins Auge sahen, als auch nur einen Fußbreit Boden mehr als nötig an die Evolutionspsychologen abzutreten. Er starb in einem fernen, fremden Land, weit weg von seinen Lieben und doch, da bin ich sicher, getragen von seinem Glauben an die Postmoderne Anthropologie und die Rechtmäßigkeit unseres Kampfes. Seine Tapferkeit und Selbstlosigkeit beschämt uns alle. Und auch wenn nichts, was wir tun, an das Opfer heranreichen kann, das Paul auf dem Altar des freien Willens dargebracht hat, müssen wir doch dieses Opfer feiern und sein Andenken ehren, so gut es in unseren Kräften steht, und wir müssen andere ermutigen, seinem Beispiel zu folgen. Als ersten Schritt dazu erkläre ich das heutige Datum, den sechzehnten April, zum Corporal-Paul-Raboteau-Gedenktag, damit die Erinnerung an diesen tapferen jungen Mann unter uns lebendig bleibt und sein Name
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