Gott oder Zufall?
ganz zu schweigen vom Zeugnis der Theologie und der Bibel selbst.
Die Deutung der Bibel und die Deutung der Welt
Die meisten von uns haben Wissenschaft in der Schule in getrennten Lehrfächern gelernt. Wir wurden vielleicht in Sprachen unterrichtet, gingen über zu Arithmetik, dann zu Geschichte und schließlich zu Geographie – und alles am selben Tag. Wir denken, dass wir ganz unterschiedliche Dinge gelernt haben, und die schulischen Lehrbücher neigen dazu, die Fächer auseinanderzuhalten. Innerhalb der einzelnen Fachbereiche gibt es sogar noch Spezialisten – ein Wissenschaftler arbeitet beispielsweise als Mikrobiologe, weiß aber wenig über Astronomie, so wie ein anderer vielleicht an der Fakultät für »Südostasiatische Wissenschaften« arbeitet, dem aber das Fachwissen über Australien fehlt. Eine solche Vorstellung von Bildung, die in der modernen Welt weitgehend selbstverständlich ist, war für die Antike keineswegs typisch. Philosophie, Religion und Wissenschaft wurden im Allgemeinen von denselben Leuten betrieben und als Bestandteil einer ungeteilten »Erzählung« betrachtet. So gab beispielsweise der antike Arzt Galen (129 – ca. 197), dessen Schriften die Medizin nahezu 1400 Jahre beherrschten, einem seiner Bücher den Titel
Der beste Arzt ist auch Philosoph.
Das Problem der modernen Zeit, Wissenschaft und Religion zueinander in Beziehung zu setzen, ist eben gerade das: ein Problem der modernen Zeit. Typologien, um die Wechselbeziehung von Religion und Wissenschaft zu veranschaulichen, eignen sich daher nicht gut für die Beschreibung der intellektuellen Tätigkeit vor dem Aufstieg der neuen Wissenschaften in den 1600er Jahren oder sogar von wissenschaftlicher Arbeit in den 1600er und 1700er Jahren. Es hat keinen Sinn, das Verhältnis von Wissenschaft und Religion zu untersuchen – war es: ein Konflikt? Unabhängigkeit? Dialog? Integration? –, wenn Wissenschaft und Religion nicht voneinander zu trennen sind. Die eine durchdringt die jeweils andere auf solch organische Weise, dass es praktisch unmöglich ist, herauszufinden, wo die eine endet und die andere beginnt.
Die Gutenberg-Bibel, das erste bedeutende um 1455 von Johannes Gutenberg in Mainz mit beweglichen Lettern gedruckte Buch © © Corbis/Uwe Zucchi
Doch zu Beginn des frühen 16. Jahrhunderts stoßen wir auf einen grundlegenden Wandel bei der »Hermeneutik« und damit auf einen Begriff, der sich darauf bezieht, wie wir die Welt um uns herum einschließlich der Bibel begreifen. Es war eine spürbare und bedeutende Verlagerung hin zu einer »wörtlichen Auslegung«. Sie eröffnete die Möglichkeit neuer Wege, nicht nur um die Bibel, sondern auch die Ordnung der Natur zu verstehen. Zwei Prämissen sind besonders wichtig, wenn wir das Wesen dieser Verlagerung verstehen wollen: Die erste hat etwas mit der Entthronung der Bibel als Autorität für den Glauben und das Leben zu tun, die zweite mit diesem Schritt hin zur »wörtlichen Auslegung«.
»Wie jedes andere Buch«
Wer in der vormodernen Welt die Bibel studierte oder sie erklärt bekam, ging im Allgemeinen davon aus, dass man ihr glauben und gehorchen musste; ihre Wahrheit und die Tatsache, dass sie die Stimme Gottes vermittelte, wurde nicht in Frage gestellt. Doch als sich im Laufe der letzten 300 oder 400 Jahre die Bibelwissenschaft als gesonderter Fachbereich herausbildete, sollte diese Prämisse abgelehnt und in den Augen mancher sogar umgestoßen werden.
Galen von Pergamon (129–199 oder 217), griechischer Arzt, der umfassende und einflussreiche Werke über Medizin verfasste © © Art Archive/ www.picture-desk.com /Museo della Civilta Romana Rome
Die Bibel stand in dieser Hinsicht nicht allein da, denn andere verehrungswürdige Traditionen und Autoritäten wurden ebenfalls entthront. Man denke da beispielsweise an die Werke von Aristoteles und Galen, die weit bis ins 17. Jahrhundert in der universitären Lehre wortwörtlich gelesen und skrupulös befolgt wurden. Die Standardprozedur beim Betreiben von wissenschaftlicher Forschung wurde vom Anatom und Arzt Andreas Vesalius (1514–1564) beschrieben:
Wie viel ist doch Galen, der leicht zum Führenden der Professoren des Sezierens wurde, von den Ärzten und Anatomen zugeschrieben worden, die ihm gefolgt sind, und oftmals geschah dies gegen die Vernunft! In Bestätigung, dass es diesen gesegneten und wundervollen Plexus reticularis gibt [das heißt ein Geflecht von Gefäßen, das
Weitere Kostenlose Bücher