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Gott oder Zufall?

Gott oder Zufall?

Titel: Gott oder Zufall? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. J. Berry
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nun auch zu Kategorien für Naturwissenschaftler.
    Das »wörtliche« Lesen der Bibel
    Zweitens – und eng mit dieser ersten Beobachtung verbunden – gab es eine Verlagerung bei der Hermeneutik selbst. Die von den protestantischen Reformatoren verfochtene Art der Bibelauslegung, die ihren Fokus auf die »wörtliche Interpretation« legte, eröffnete die Möglichkeit für neue Wege, die Ordnung der Natur zu sehen.
    Ein interessantes Beispiel liefert der Semiologe Umberto Eco. Er beobachtet, dass im mittelalterlichen Lexikon alles Existierende von Grund auf ein Ausdruck für Gott ist, für Gottes Wesen und für seine Absicht. Das schloss Worte auf der Buchseite ebenso mit ein wie die Geschöpfe auf der Erde, die dann als Wandgemälde des Planes Gottes dienten, der gerade in der Geschichte am Werk ist. Bei diesem weitverbreiteten Verständnis von der Welt wurde alles als Metapher Gottes gesehen. Gegenstände und Geschöpfe der natürlichen Welt wurden analog interpretiert – als Ähnlichkeit –, sogar allegorisch, als ob ihr Zweck darin läge, über sich selbst hinaus auf Gott sowie auf Gottes allumfassende Absichten hinzuweisen, die er für seine Schöpfung habe. Sehen Sie den Löwen, wie er durch die Savanne streift? Ist er nicht vielleicht ein Bild sowohl für Christus als auch für den Antichristen? Die Beobachtung, dass der Löwe seine Spuren mit dem Schwanz verwischt, führte manche zu der Ansicht, der Löwe sei eine Metapher für Christus, dessen Werk darin bestehe, jede Spur der Sünde auszulöschen. Gleichzeitig konnte einer Auslegung von Psalm 21 aus dem Mittelalter zufolge der schreckliche Rachen des Löwen als Metapher für die Hölle dienen, und damit für den Antichristen. Wenn die ganze Welt ein von der Hand Gottes geschriebenes Buch war, dann dient die gesamte Natur auf metaphorische Weise dazu, den Göttlichen Urheber zu offenbaren.
     
    Die Reformatoren führten eine neue Disziplin der wörtlichen Interpretation der Welt und der Bibel ein, wobei sie die mittelalterliche Verwendung von Metaphern vermieden – wie den Löwen, der als Metapher für Jesus diente.  ©  © Corbis/​Andy Rouse
     
    Der englische Naturalist John Ray (1627–1705) schrieb in seinem Buch, er habe »völlig ausgelassen, was wir bei anderen Autoren finden, was
homonyme
oder
synonyme
Wörter betrifft oder die verschiedenen Namen von
Vögeln, Hieroglyphen, Emblemen, Morallehren, Fabeln, Prophezeiungen
oder anderweitig zum
Göttlichen, zur Ethik, zur Sprachlehre
oder zu irgendeiner Art von menschlichem Lernen dazugehören sollte«. In anderen Worten: Ray gab sich Mühe, sich von dem Brauch zu distanzieren, dass lebende Dinge Symbole mit einer tieferen Bedeutung seien, indem er sich stattdessen »nur auf das« konzentrierte, »was sich wirklich auf ihre Naturgeschichte bezieht«. Das ist ein Ansatz, der mit der Neubewertung der Bibel und ihrer Auslegung in Einklang steht, die zur Reformation führte und sich aus ihr ergab.
    In der Kirche der Vormoderne vollzog sich die Interpretation der Welt im Sinne der Auslegung der Bibel, das heißt gemäß der überlieferten Theorie des vierfachen Schriftsinns: die Interpretation der Bibel auf wörtliche, allegorische, moralische und anagogische oder analoge Weise. Doch als die Ausleger der Bibel begannen, sich dieses vierfachen Schriftsinns zugunsten allein des buchstäblichen Sinnes zu entledigen, lautete die naheliegende Schlussfolgerung, dass der Kosmos anderweitig erforscht werden sollte. Und tatsächlich drängten auch neue Akzente in der Hermeneutik, die deutlich mit Bezug auf die Bibel herausgearbeitet wurden, für ein besseres Verständnis der Welt neue Wege zu finden.
    Die buchstabengläubige Mentalität der protestantischen Reformatoren gab dem Text der Heiligen Schrift eine genau festgelegte Bedeutung und schloss von vornherein die Möglichkeit aus, natürlichen Objekten eine Bedeutung zuzuweisen. Buchstabengläubigkeit bedeutet hier, dass nur Worte zählen, die natürlichen Dinge aber nicht. Auf diese Weise wurde das Studium der natürlichen Welt vom speziell religiösen Interesse nach einer biblischen Interpretation befreit, und der Bereich der Natur wurde neuen Ordnungsprinzipien eröffnet.
    Peter Harrison, The Bible, Protestantism and the Rise of Natural Science (1998)
    Die Kombination dieser beiden Punkte ist von Belang. Jüdische und christliche Autoren in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung waren nicht blind gegenüber dem, was wir vielleicht

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