Gott-Poker (German Edition)
irgendwohin, ohne sie?«
Sergej schwieg und starrte in den Nachthimmel.
»Was für ein gottvermaledeiter Wahnsinn«, sagte er, und Franziska zuckte zusammen, überrascht von seinem heftigen Ton, »nicht mal bis zur Gartentür würden wir kommen, und ich glaube fast, je länger sie da drin mit Nicolas herumvögelt, umso mehr liebe ich sie, und je wahnsinniger ihr Blick wird, je mehr sie daran zugrunde geht, an dem Blut und dem Gestank und dem Morden, je mehr wir alle daran zugrunde gehen, umso mehr zerreißt es mir das Herz, und umso mehr wird das hier der einzige Ort, an dem ich wirklich glücklich bin, an dem ich zu Hause bin, hier bei euch.«
Er schlug die Stirn gegen den Stamm des Kirsc hbaums. »Was ist das nur? Ist es das, was wir suchen? Ist das das Glück? die Liebe? das Leben? Ist es das?«
Franziska strich leicht mit der Hand über seinen Rücken.
»Die Welt wäre traurig ohne die Sehnsucht, Serjoša, also heul nicht rum.« Sie wandte sich zum Gehen. »Lass uns Licht machen und Wein trinken, sie kommen sicher bald raus.«
Sie tasteten sich im Mondlicht die morschen St ufen zur Terrasse des alten Hauses hinauf.
»Was?« fragte Franziska. »Ich habe nichts gesagt«, sagte Sergej, »ich dachte gerade darüber nach, ob ich noch etwas arbeiten sollte, es könnte sein, dass ich auf etwas gestoßen bin, es hat mit der Sauerstoffve rsorgung der Blutkörperchen zu tun.«
»Merkwürdig«, sagte Franziska. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Ein Flüstern. Da unten«, sagte sie und zeigte auf die Kellerfenster, die sich in einer Reihe unter der auf dicken Holzpfosten verankerten Veranda entlang zogen, und deren zerbrochene Scheiben durch die Zwischenräume in der Treppe eine Spiegelung des Mondlichts erahnen ließen, »und neulich habe ich es schon einmal gehört.«
»Da flüstert der Dursttroll, Frau Baronin« ächzte Sergej und schob Franziska mit einem Griff um die Taille die Treppe hinauf. Franziska schrie auf. Sie stolperte über del Toro, die einen empörten Ton von sich gab, einen Satz auf das Geländer der Veranda machte und von dort aufs Dach verschwand. Lachend liefen sie ins Haus.
Mein Kopf schmerzt sehr. Schon zweimal habe ich meine wenigen Sachen in die Tasche geworfen und wollte zum Flughafen, um sofort nach Hause zu fliegen. Aber selbst das kommt mir lächerlich vor. Mitten während des Packens setze ich mich aufs Bett und bleibe dort sitzen, regungslos. Wenn ich mir nicht irgendwann sogar dabei lächerlich vorkäme, würde ich wohl für alle Ewigkeiten dort sitzen bleiben. Adjektivlos die Wand anstarren und das Bild, das dort hängt, gar nicht bemerken.
Das Bild hat einen schwarz lackierten, geschnitzten Rahmen. Es zeigt eine Landschaft, die wahrscheinlich hier in der Umgebung zu finden ist. Ein Weg führt zwischen klaffenden Steinen und ausgedörrtem Gras, das mit merkwürdigen Flecken versehen ist, zu einem verfallenen Kloster den Berg hinauf. Wenn ich nur lange genug hinsehe, fangen die Flecken an, sich zu bewegen. Sie stromern den Weg entlang und streichen über die trockenen Wiesen. Ein Stück abseits von der Klosterruine steht ein gut erhaltener, weiß getünchter Turm, in dessen offenem Spitzgiebel eine Glocke hängt. Zwischen Turm und Ruine ist eine hohe, schwarze Mauer zu sehen. Obwohl die Mauer viel zu hoch ist, um darüber sehen zu können, kann man wegen irgendeines Fehlers in der Perspektive die schwarzen Grabsteine dahinter erkennen, regelmäßig angeordnet und ganz verfallen. Am Horizont gehen sie in den Himmel über. Der Himmel ist tiefblau. Eine einzelne weiße Wolke sieht aus, als wäre sie eben ins Bild geflogen gekommen.
Ob wohl die Wattewolke ins Bild geflogen kam, um jemanden in dem Bild zu beeindrucken, obwohl da auf den ersten Blick gar niemand ist? Genau wissen kann man es schließlich nicht, es könnte sein, dass die stromernden Flecken eine Horde von Katzen sind, und Katzen lieben schließlich fliegende weiße Wattebäusche, nach denen sie naturgemäß, ohne je etwas dagegen tun zu können, mit der Pfote hauen müssen. Es könnte auch sein, dass jemand sich im Turm oder in der Ruine versteckt hält, und für gewöhnlich haben solche alten Klosteranlagen riesige Katakombengewölbe, in denen also eine Menge Menschen oder Mäuse oder sonst etwas versteckt sein könnte, etwas, das ich manchmal glaube, an einem der schwarz gemalten Fenster der Ruine auftauchen zu sehen, etwas, das dort ein geheimes Dasein fristet und mir gelegentlich zuwinkt,
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